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Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 2. Berlin, 1852.

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können, würde eine Thräne in ihrem Auge entdeckt
haben.

"Nur etwas ruhiger, sagte die Wirthin, und
dann geht es vortrefflich."

"Aber ich werde doch nicht mit der Binde zu
Tische gehen," entgegnete das junge Mädchen.

"Du wirst aber, wenn Du den Salat machst,
gen Himmel, das heißt an die Decke blicken. Es
wird sich irgend eine Gelegenheit finden, Dich auf¬
zufordern ein Gedicht, am besten eines von ihm her¬
zusagen, Du geräthst von der Schönheit hingerissen,
in Affect, und blickst in die Wolken. Während Du
recitirst, stellt der Bediente den Salatnapf vor Dich
und flüstert Dir zu: Fräulein der Salat! Du läßt
Dich nicht stören und unterbrechen, greifst aber un¬
willkührlich nach Löffel und Gabel, und ohne einen
Blick hinunter zu werfen, verrichtest Du mechanisch
die Arbeit."

"Aber die Liane aus dem Titan ist ja, wie Sie
mir gestern vorlasen, wirklich in dem Augenblick blind,
und der häßliche Minister, ihr Vater, zwingt sie nur
zu der Komödie, damit die Gesellschaft glauben soll,
seine Tochter könne noch sehen. Herr Richter und
alle unsre Gäste wissen aber, daß ich sehen kann,
warum soll ich denn nun eine Fertigkeit zeigen, von
der jeder Mensch weiß, daß sie eine außerordentliche
Abrichtung kostet. Die Gäste werden wahrscheinlich
den Titan gelesen haben."

Adelheid hatte die Binde abgerissen.

können, würde eine Thräne in ihrem Auge entdeckt
haben.

„Nur etwas ruhiger, ſagte die Wirthin, und
dann geht es vortrefflich.“

„Aber ich werde doch nicht mit der Binde zu
Tiſche gehen,“ entgegnete das junge Mädchen.

„Du wirſt aber, wenn Du den Salat machſt,
gen Himmel, das heißt an die Decke blicken. Es
wird ſich irgend eine Gelegenheit finden, Dich auf¬
zufordern ein Gedicht, am beſten eines von ihm her¬
zuſagen, Du geräthſt von der Schönheit hingeriſſen,
in Affect, und blickſt in die Wolken. Während Du
recitirſt, ſtellt der Bediente den Salatnapf vor Dich
und flüſtert Dir zu: Fräulein der Salat! Du läßt
Dich nicht ſtören und unterbrechen, greifſt aber un¬
willkührlich nach Löffel und Gabel, und ohne einen
Blick hinunter zu werfen, verrichteſt Du mechaniſch
die Arbeit.“

„Aber die Liane aus dem Titan iſt ja, wie Sie
mir geſtern vorlaſen, wirklich in dem Augenblick blind,
und der häßliche Miniſter, ihr Vater, zwingt ſie nur
zu der Komödie, damit die Geſellſchaft glauben ſoll,
ſeine Tochter könne noch ſehen. Herr Richter und
alle unſre Gäſte wiſſen aber, daß ich ſehen kann,
warum ſoll ich denn nun eine Fertigkeit zeigen, von
der jeder Menſch weiß, daß ſie eine außerordentliche
Abrichtung koſtet. Die Gäſte werden wahrſcheinlich
den Titan geleſen haben.“

Adelheid hatte die Binde abgeriſſen.

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[43/0053] können, würde eine Thräne in ihrem Auge entdeckt haben. „Nur etwas ruhiger, ſagte die Wirthin, und dann geht es vortrefflich.“ „Aber ich werde doch nicht mit der Binde zu Tiſche gehen,“ entgegnete das junge Mädchen. „Du wirſt aber, wenn Du den Salat machſt, gen Himmel, das heißt an die Decke blicken. Es wird ſich irgend eine Gelegenheit finden, Dich auf¬ zufordern ein Gedicht, am beſten eines von ihm her¬ zuſagen, Du geräthſt von der Schönheit hingeriſſen, in Affect, und blickſt in die Wolken. Während Du recitirſt, ſtellt der Bediente den Salatnapf vor Dich und flüſtert Dir zu: Fräulein der Salat! Du läßt Dich nicht ſtören und unterbrechen, greifſt aber un¬ willkührlich nach Löffel und Gabel, und ohne einen Blick hinunter zu werfen, verrichteſt Du mechaniſch die Arbeit.“ „Aber die Liane aus dem Titan iſt ja, wie Sie mir geſtern vorlaſen, wirklich in dem Augenblick blind, und der häßliche Miniſter, ihr Vater, zwingt ſie nur zu der Komödie, damit die Geſellſchaft glauben ſoll, ſeine Tochter könne noch ſehen. Herr Richter und alle unſre Gäſte wiſſen aber, daß ich ſehen kann, warum ſoll ich denn nun eine Fertigkeit zeigen, von der jeder Menſch weiß, daß ſie eine außerordentliche Abrichtung koſtet. Die Gäſte werden wahrſcheinlich den Titan geleſen haben.“ Adelheid hatte die Binde abgeriſſen.

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Zitationshilfe: Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 2. Berlin, 1852, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe02_1852/53>, abgerufen am 25.11.2024.