Adler, Emma: Die berühmten Frauen der französischen Revolution 1789–1795. Wien, 1906.Sie fand die Mutter im Fauteuil, der Kopf hing herab, die Arme waren schlaff, das Auge ohne Ausdruck, der Mund halb geöffnet. Als sie der Tochter ansichtig war, belebte sich der Ausdruck ihres Gesichtes, sie wollte sprechen und konnte nur mühsam einige Worte lallen, aus denen man erraten konnte, dass Frau Phlipon Manon mit Ungeduld erwartet habe. Mit Mühe hob sie einen Arm und wischte die Tränen aus dem Gesichte ihres Kindes, sie streichelte sie, wie um sie zu beruhigen, und versuchte zu sprechen, aber es war eine vergebliche Anstrengung. Der Schlag hatte sie gelähmt. Manon holte den Arzt, lief in die Apotheke, verordnete alles, was zu geschehen habe und tat die Dinge, eh' sie noch verordnet waren, es schien, als ob sie sich nicht vom Krankenbette fortrühre und doch tat sie fast alles selbst. Um 10 Uhr nachts wurde Madame Phlipon so schlecht, dass man ihr die letzte Oelung reichte. Manon stand am Bett und hielt den Armleuchter, dabei verwandte sie keinen Blick von ihrer sterbenden, geliebten Mutter und war nur von einem Gedanken beherrscht, der alle ihre Kräfte aufhob. Der Armleuchter entglitt ihrer Hand, und sie fiel ohne Besinnung zu Boden. Als Manon aus der Ohnmacht erwachte, befand sie sich im anstossenden Salon, umgeben von Mitgliedern ihrer Familie. Nach einer Zeit trat der Vater bleich und schweigend ins Zimmer, auf eine leise Anfrage hin nickte er bloss mit dem Kopfe, worauf alle in lautes Seufzen ausbrachen. Manon entschlüpfte ungesehen aus dem Zimmer und eilte zu ihrer Mutter ... sie war nicht mehr! Sie hob ihren Arm in die Höhe, sie hob und senkte die Lider jener Augen, die sie nie mehr sehen sollten - sie wollte es nicht glauben. Manon litt entsetzlich, sie konnte den Atem nicht finden und glaubte ersticken zu müssen; es war kein Atmen mehr, es war ein Röcheln, das so laut war, dass man es auf der Strasse hörte. Acht volle Tage vergingen, und noch hatte Manon keine Träne zu weinen vermocht. Sie fand die Mutter im Fauteuil, der Kopf hing herab, die Arme waren schlaff, das Auge ohne Ausdruck, der Mund halb geöffnet. Als sie der Tochter ansichtig war, belebte sich der Ausdruck ihres Gesichtes, sie wollte sprechen und konnte nur mühsam einige Worte lallen, aus denen man erraten konnte, dass Frau Phlipon Manon mit Ungeduld erwartet habe. Mit Mühe hob sie einen Arm und wischte die Tränen aus dem Gesichte ihres Kindes, sie streichelte sie, wie um sie zu beruhigen, und versuchte zu sprechen, aber es war eine vergebliche Anstrengung. Der Schlag hatte sie gelähmt. Manon holte den Arzt, lief in die Apotheke, verordnete alles, was zu geschehen habe und tat die Dinge, eh’ sie noch verordnet waren, es schien, als ob sie sich nicht vom Krankenbette fortrühre und doch tat sie fast alles selbst. Um 10 Uhr nachts wurde Madame Phlipon so schlecht, dass man ihr die letzte Oelung reichte. Manon stand am Bett und hielt den Armleuchter, dabei verwandte sie keinen Blick von ihrer sterbenden, geliebten Mutter und war nur von einem Gedanken beherrscht, der alle ihre Kräfte aufhob. Der Armleuchter entglitt ihrer Hand, und sie fiel ohne Besinnung zu Boden. Als Manon aus der Ohnmacht erwachte, befand sie sich im anstossenden Salon, umgeben von Mitgliedern ihrer Familie. Nach einer Zeit trat der Vater bleich und schweigend ins Zimmer, auf eine leise Anfrage hin nickte er bloss mit dem Kopfe, worauf alle in lautes Seufzen ausbrachen. Manon entschlüpfte ungesehen aus dem Zimmer und eilte zu ihrer Mutter … sie war nicht mehr! Sie hob ihren Arm in die Höhe, sie hob und senkte die Lider jener Augen, die sie nie mehr sehen sollten – sie wollte es nicht glauben. Manon litt entsetzlich, sie konnte den Atem nicht finden und glaubte ersticken zu müssen; es war kein Atmen mehr, es war ein Röcheln, das so laut war, dass man es auf der Strasse hörte. Acht volle Tage vergingen, und noch hatte Manon keine Träne zu weinen vermocht. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0100" n="81"/> <p> Sie fand die Mutter im Fauteuil, der Kopf hing herab, die Arme waren schlaff, das Auge ohne Ausdruck, der Mund halb geöffnet. Als sie der Tochter ansichtig war, belebte sich der Ausdruck ihres Gesichtes, sie wollte sprechen und konnte nur mühsam einige Worte lallen, aus denen man erraten konnte, dass Frau Phlipon Manon mit Ungeduld erwartet habe. Mit Mühe hob sie einen Arm und wischte die Tränen aus dem Gesichte ihres Kindes, sie streichelte sie, wie um sie zu beruhigen, und versuchte zu sprechen, aber es war eine vergebliche Anstrengung. Der Schlag hatte sie gelähmt. Manon holte den Arzt, lief in die Apotheke, verordnete alles, was zu geschehen habe und tat die Dinge, eh’ sie noch verordnet waren, es schien, als ob sie sich nicht vom Krankenbette fortrühre und doch tat sie fast alles selbst. Um 10 Uhr nachts wurde Madame Phlipon so schlecht, dass man ihr die letzte Oelung reichte. Manon stand am Bett und hielt den Armleuchter, dabei verwandte sie keinen Blick von ihrer sterbenden, geliebten Mutter und war nur von einem Gedanken beherrscht, der alle ihre Kräfte aufhob. Der Armleuchter entglitt ihrer Hand, und sie fiel ohne Besinnung zu Boden.</p> <p>Als Manon aus der Ohnmacht erwachte, befand sie sich im anstossenden Salon, umgeben von Mitgliedern ihrer Familie. Nach einer Zeit trat der Vater bleich und schweigend ins Zimmer, auf eine leise Anfrage hin nickte er bloss mit dem Kopfe, worauf alle in lautes Seufzen ausbrachen. Manon entschlüpfte ungesehen aus dem Zimmer und eilte zu ihrer Mutter … sie war nicht mehr! Sie hob ihren Arm in die Höhe, sie hob und senkte die Lider jener Augen, die sie nie mehr sehen sollten – sie wollte es nicht glauben.</p> <p>Manon litt entsetzlich, sie konnte den Atem nicht finden und glaubte ersticken zu müssen; es war kein Atmen mehr, es war ein Röcheln, das so laut war, dass man es auf der Strasse hörte. Acht volle Tage vergingen, und noch hatte Manon keine Träne zu weinen vermocht.</p> </div> </body> </text> </TEI> [81/0100]
Sie fand die Mutter im Fauteuil, der Kopf hing herab, die Arme waren schlaff, das Auge ohne Ausdruck, der Mund halb geöffnet. Als sie der Tochter ansichtig war, belebte sich der Ausdruck ihres Gesichtes, sie wollte sprechen und konnte nur mühsam einige Worte lallen, aus denen man erraten konnte, dass Frau Phlipon Manon mit Ungeduld erwartet habe. Mit Mühe hob sie einen Arm und wischte die Tränen aus dem Gesichte ihres Kindes, sie streichelte sie, wie um sie zu beruhigen, und versuchte zu sprechen, aber es war eine vergebliche Anstrengung. Der Schlag hatte sie gelähmt. Manon holte den Arzt, lief in die Apotheke, verordnete alles, was zu geschehen habe und tat die Dinge, eh’ sie noch verordnet waren, es schien, als ob sie sich nicht vom Krankenbette fortrühre und doch tat sie fast alles selbst. Um 10 Uhr nachts wurde Madame Phlipon so schlecht, dass man ihr die letzte Oelung reichte. Manon stand am Bett und hielt den Armleuchter, dabei verwandte sie keinen Blick von ihrer sterbenden, geliebten Mutter und war nur von einem Gedanken beherrscht, der alle ihre Kräfte aufhob. Der Armleuchter entglitt ihrer Hand, und sie fiel ohne Besinnung zu Boden.
Als Manon aus der Ohnmacht erwachte, befand sie sich im anstossenden Salon, umgeben von Mitgliedern ihrer Familie. Nach einer Zeit trat der Vater bleich und schweigend ins Zimmer, auf eine leise Anfrage hin nickte er bloss mit dem Kopfe, worauf alle in lautes Seufzen ausbrachen. Manon entschlüpfte ungesehen aus dem Zimmer und eilte zu ihrer Mutter … sie war nicht mehr! Sie hob ihren Arm in die Höhe, sie hob und senkte die Lider jener Augen, die sie nie mehr sehen sollten – sie wollte es nicht glauben.
Manon litt entsetzlich, sie konnte den Atem nicht finden und glaubte ersticken zu müssen; es war kein Atmen mehr, es war ein Röcheln, das so laut war, dass man es auf der Strasse hörte. Acht volle Tage vergingen, und noch hatte Manon keine Träne zu weinen vermocht.
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