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Chamisso, Adelbert von: Peter Schlemihl’s wundersame Geschichte. Nürnberg, 1839.

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Der Schatten, auf meine Bewegung, nahm vor mir die
Flucht, und ich mußte auf den leichten Flüchtling eine ange-
strengte Jagd beginnen, zu der mich allein der Gedanke, mich
aus der furchtbaren Lage, in der ich war, zu retten, mit hin-
reichenden Kräften ausrüsten konnte. Er floh einem freilich
noch entfernten Walde zu, in dessen Schatten ich ihn noth-
wendig hätte verlieren müssen, -- ich sah's, ein Schreck durch-
zuckte mir das Herz, fachte meine Begierde an, beflügelte
meinen Lauf -- ich gewann sichtbarlich auf den Schatten, ich
kam ihm nach und nach näher, ich mußte ihn erreichen. Nun
hielt er plötzlich an und kehrte sich nach mir um. Wie der
Löwe auf seine Beute, so schoß ich mit einem gewaltigen
Sprunge hinzu, um ihn in Besitz zu nehmen -- und traf
unerwartet und hart auf körperlichen Widerstand. Es wur-
den mir unsichtbar die unerhörtesten Rippenstöße ertheilt, die
wohl je ein Mensch gefühlt hat.

Die Wirkung des Schreckens war in mir, die Arme
krampfhaft zuzuschlagen und fest zu drücken, was ungesehen
vor mir stand. Ich stürzte in der schnellen Handlung vor-
wärts gestreckt auf den Boden; rückwärts aber unter mir ein
Mensch, den ich umfaßt hielt, und der jetzt erst sichtbar
erschien.

Nun ward mir auch das ganze Ereigniß sehr natürlich
erklärbar. Der Mann mußte das unsichtbare Vogelnest, wel-
ches den, der es hält, nicht aber seinen Schatten, unsichtbar
macht, erst getragen und jetzt weggeworfen haben. Ich spä-
hete mit dem Blick umher, entdeckte gar bald den Schatten
des unsichtbaren Nestes selbst, sprang auf und hinzu, und ver-
fehlte nicht den theuern Raub. Ich hielt unsichtbar, schatten-
los das Nest in Händen.

Der schnell sich aufrichtende Mann, sich sogleich nach sei-
nem beglückten Bezwinger umsehend, erblickte auf der weiten
sonnigen Ebene weder ihn, noch dessen Schatten, nach dem

Der Schatten, auf meine Bewegung, nahm vor mir die
Flucht, und ich mußte auf den leichten Flüchtling eine ange-
ſtrengte Jagd beginnen, zu der mich allein der Gedanke, mich
aus der furchtbaren Lage, in der ich war, zu retten, mit hin-
reichenden Kräften ausrüſten konnte. Er floh einem freilich
noch entfernten Walde zu, in deſſen Schatten ich ihn noth-
wendig hätte verlieren müſſen, — ich ſah’s, ein Schreck durch-
zuckte mir das Herz, fachte meine Begierde an, beflügelte
meinen Lauf — ich gewann ſichtbarlich auf den Schatten, ich
kam ihm nach und nach näher, ich mußte ihn erreichen. Nun
hielt er plötzlich an und kehrte ſich nach mir um. Wie der
Löwe auf ſeine Beute, ſo ſchoß ich mit einem gewaltigen
Sprunge hinzu, um ihn in Beſitz zu nehmen — und traf
unerwartet und hart auf körperlichen Widerſtand. Es wur-
den mir unſichtbar die unerhörteſten Rippenſtöße ertheilt, die
wohl je ein Menſch gefühlt hat.

Die Wirkung des Schreckens war in mir, die Arme
krampfhaft zuzuſchlagen und feſt zu drücken, was ungeſehen
vor mir ſtand. Ich ſtürzte in der ſchnellen Handlung vor-
wärts geſtreckt auf den Boden; rückwärts aber unter mir ein
Menſch, den ich umfaßt hielt, und der jetzt erſt ſichtbar
erſchien.

Nun ward mir auch das ganze Ereigniß ſehr natürlich
erklärbar. Der Mann mußte das unſichtbare Vogelneſt, wel-
ches den, der es hält, nicht aber ſeinen Schatten, unſichtbar
macht, erſt getragen und jetzt weggeworfen haben. Ich ſpä-
hete mit dem Blick umher, entdeckte gar bald den Schatten
des unſichtbaren Neſtes ſelbſt, ſprang auf und hinzu, und ver-
fehlte nicht den theuern Raub. Ich hielt unſichtbar, ſchatten-
los das Neſt in Händen.

Der ſchnell ſich aufrichtende Mann, ſich ſogleich nach ſei-
nem beglückten Bezwinger umſehend, erblickte auf der weiten
ſonnigen Ebene weder ihn, noch deſſen Schatten, nach dem

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[46/0064] Der Schatten, auf meine Bewegung, nahm vor mir die Flucht, und ich mußte auf den leichten Flüchtling eine ange- ſtrengte Jagd beginnen, zu der mich allein der Gedanke, mich aus der furchtbaren Lage, in der ich war, zu retten, mit hin- reichenden Kräften ausrüſten konnte. Er floh einem freilich noch entfernten Walde zu, in deſſen Schatten ich ihn noth- wendig hätte verlieren müſſen, — ich ſah’s, ein Schreck durch- zuckte mir das Herz, fachte meine Begierde an, beflügelte meinen Lauf — ich gewann ſichtbarlich auf den Schatten, ich kam ihm nach und nach näher, ich mußte ihn erreichen. Nun hielt er plötzlich an und kehrte ſich nach mir um. Wie der Löwe auf ſeine Beute, ſo ſchoß ich mit einem gewaltigen Sprunge hinzu, um ihn in Beſitz zu nehmen — und traf unerwartet und hart auf körperlichen Widerſtand. Es wur- den mir unſichtbar die unerhörteſten Rippenſtöße ertheilt, die wohl je ein Menſch gefühlt hat. Die Wirkung des Schreckens war in mir, die Arme krampfhaft zuzuſchlagen und feſt zu drücken, was ungeſehen vor mir ſtand. Ich ſtürzte in der ſchnellen Handlung vor- wärts geſtreckt auf den Boden; rückwärts aber unter mir ein Menſch, den ich umfaßt hielt, und der jetzt erſt ſichtbar erſchien. Nun ward mir auch das ganze Ereigniß ſehr natürlich erklärbar. Der Mann mußte das unſichtbare Vogelneſt, wel- ches den, der es hält, nicht aber ſeinen Schatten, unſichtbar macht, erſt getragen und jetzt weggeworfen haben. Ich ſpä- hete mit dem Blick umher, entdeckte gar bald den Schatten des unſichtbaren Neſtes ſelbſt, ſprang auf und hinzu, und ver- fehlte nicht den theuern Raub. Ich hielt unſichtbar, ſchatten- los das Neſt in Händen. Der ſchnell ſich aufrichtende Mann, ſich ſogleich nach ſei- nem beglückten Bezwinger umſehend, erblickte auf der weiten ſonnigen Ebene weder ihn, noch deſſen Schatten, nach dem

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Zitationshilfe: Chamisso, Adelbert von: Peter Schlemihl’s wundersame Geschichte. Nürnberg, 1839, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/Yw_7531_1/64>, abgerufen am 25.11.2024.