Er ging; aber nicht lange war er gegangen, so war die Schleusenreparatur vergessen. Ein anderer Gedanke, den er, halb nur ausgedacht und seit Jahren mit sich umhergetragen hatte, der aber vor den drängenden Amtsgeschäften ganz zurückgetreten war, bemächtigte sich seiner jetzt aufs Neue und mächtiger als je zuvor, als seien plötzlich die Flügel ihm gewachsen.
Kaum daß er es selber wußte, befand er sich oben auf dem Hafdeich, schon eine weite Strecke südwärts nach der Stadt zu; das Dorf, das nach dieser Seite hinauslag, war ihm zur Linken längst verschwunden; noch immer schritt er weiter, seine Augen unablässig nach der Seeseite auf das breite Vorland gerichtet; wäre Jemand neben ihm ge- gangen, er hätte es sehen müssen, welch' eindringliche Geistesarbeit hinter diesen Augen vorging. Endlich blieb er stehen: das Vorland schwand hier zu einem schmalen Streifen an dem Deich zusammen. "Es muß gehen!" sprach er bei sich selbst. "Sieben Jahr' im Amt; sie sollen nicht mehr sagen, daß ich nur Deichgraf bin von meines Weibes wegen!"
Noch immer stand er, und seine Blicke schweiften scharf und bedächtig nach allen Seiten über das
Er ging; aber nicht lange war er gegangen, ſo war die Schleuſenreparatur vergeſſen. Ein anderer Gedanke, den er, halb nur ausgedacht und ſeit Jahren mit ſich umhergetragen hatte, der aber vor den drängenden Amtsgeſchäften ganz zurückgetreten war, bemächtigte ſich ſeiner jetzt aufs Neue und mächtiger als je zuvor, als ſeien plötzlich die Flügel ihm gewachſen.
Kaum daß er es ſelber wußte, befand er ſich oben auf dem Hafdeich, ſchon eine weite Strecke ſüdwärts nach der Stadt zu; das Dorf, das nach dieſer Seite hinauslag, war ihm zur Linken längſt verſchwunden; noch immer ſchritt er weiter, ſeine Augen unabläſſig nach der Seeſeite auf das breite Vorland gerichtet; wäre Jemand neben ihm ge- gangen, er hätte es ſehen müſſen, welch' eindringliche Geiſtesarbeit hinter dieſen Augen vorging. Endlich blieb er ſtehen: das Vorland ſchwand hier zu einem ſchmalen Streifen an dem Deich zuſammen. „Es muß gehen!” ſprach er bei ſich ſelbſt. „Sieben Jahr' im Amt; ſie ſollen nicht mehr ſagen, daß ich nur Deichgraf bin von meines Weibes wegen!”
Noch immer ſtand er, und ſeine Blicke ſchweiften ſcharf und bedächtig nach allen Seiten über das
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0115"n="103"/><p>Er ging; aber nicht lange war er gegangen,<lb/>ſo war die Schleuſenreparatur vergeſſen. Ein anderer<lb/>
Gedanke, den er, halb nur ausgedacht und ſeit<lb/>
Jahren mit ſich umhergetragen hatte, der aber vor<lb/>
den drängenden Amtsgeſchäften ganz zurückgetreten<lb/>
war, bemächtigte ſich ſeiner jetzt aufs Neue und<lb/>
mächtiger als je zuvor, als ſeien plötzlich die Flügel<lb/>
ihm gewachſen.</p><lb/><p>Kaum daß er es ſelber wußte, befand er ſich<lb/>
oben auf dem Hafdeich, ſchon eine weite Strecke<lb/>ſüdwärts nach der Stadt zu; das Dorf, das nach<lb/>
dieſer Seite hinauslag, war ihm zur Linken längſt<lb/>
verſchwunden; noch immer ſchritt er weiter, ſeine<lb/>
Augen unabläſſig nach der Seeſeite auf das breite<lb/>
Vorland gerichtet; wäre Jemand neben ihm ge-<lb/>
gangen, er hätte es ſehen müſſen, welch' eindringliche<lb/>
Geiſtesarbeit hinter dieſen Augen vorging. Endlich<lb/>
blieb er ſtehen: das Vorland ſchwand hier zu einem<lb/>ſchmalen Streifen an dem Deich zuſammen. „Es<lb/>
muß gehen!”ſprach er bei ſich ſelbſt. „Sieben<lb/>
Jahr' im Amt; ſie ſollen nicht mehr ſagen, daß<lb/>
ich nur Deichgraf bin von meines Weibes wegen!”</p><lb/><p>Noch immer ſtand er, und ſeine Blicke ſchweiften<lb/>ſcharf und bedächtig nach allen Seiten über das<lb/></p></div></body></text></TEI>
[103/0115]
Er ging; aber nicht lange war er gegangen,
ſo war die Schleuſenreparatur vergeſſen. Ein anderer
Gedanke, den er, halb nur ausgedacht und ſeit
Jahren mit ſich umhergetragen hatte, der aber vor
den drängenden Amtsgeſchäften ganz zurückgetreten
war, bemächtigte ſich ſeiner jetzt aufs Neue und
mächtiger als je zuvor, als ſeien plötzlich die Flügel
ihm gewachſen.
Kaum daß er es ſelber wußte, befand er ſich
oben auf dem Hafdeich, ſchon eine weite Strecke
ſüdwärts nach der Stadt zu; das Dorf, das nach
dieſer Seite hinauslag, war ihm zur Linken längſt
verſchwunden; noch immer ſchritt er weiter, ſeine
Augen unabläſſig nach der Seeſeite auf das breite
Vorland gerichtet; wäre Jemand neben ihm ge-
gangen, er hätte es ſehen müſſen, welch' eindringliche
Geiſtesarbeit hinter dieſen Augen vorging. Endlich
blieb er ſtehen: das Vorland ſchwand hier zu einem
ſchmalen Streifen an dem Deich zuſammen. „Es
muß gehen!” ſprach er bei ſich ſelbſt. „Sieben
Jahr' im Amt; ſie ſollen nicht mehr ſagen, daß
ich nur Deichgraf bin von meines Weibes wegen!”
Noch immer ſtand er, und ſeine Blicke ſchweiften
ſcharf und bedächtig nach allen Seiten über das
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Zuerst erschienen in: Deutsche Rundschau (Berlin)… [mehr]
Zuerst erschienen in: Deutsche Rundschau (Berlin), April/Mai 1888. Erste Buchausgabe Berlin: Paetel 1888, diese wurde für das DTA zur Digitalisierung herangezogen.
Storm, Theodor: Der Schimmelreiter. Berlin, 1888, S. 103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/storm_schimmelreiter_1888/115>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.