phol. Unters. III, 92 selbst diese Möglichkeit nicht einräumen zu wollen. Er geht dabei von einem jener Axiome aus, deren Werth wir im ersten Abschnitt dieser Schrift erwogen. "Die Annahme, dass unter ganz denselben Verhältnissen ein Laut in einem Theil der Formen auf diesem, in einem andern Theil auf jenem Wege umgestaltet worden sei -- etwa in Folge der Laune der sprechenden --, widerstreitet den heutzutage mehr und mehr zur Geltung kommenden methodologischen Prin- cipien durchaus". Meiner Ansicht nach kommt es auf der- artige a priori construirte Principien viel weniger an als auf die Thatsachen der Sprachen und deren wahrscheinlichste Deu- tung. Bei der Verschiedenheit der Mundarten begegnen wir ja häufig einem fürs erste wenigstens unerklärten mannichfal- tigen Wechsel der Laute und gerade vorzugsweise der voca- lischen. Wer hat einen Grund dafür gefunden, dass im Arka- dischen dem allo aller andern Mundarten allu gegenüber steht, wer einen Grund dafür, dass das lat. inter im Oskischen anter lautet? Was von Mundarten gilt, kann doch auch von Sprachen eines Stammes behauptet werden. In einer grossen Reihe von Fällen steht arischem r, wie man längst erkannt hat, ein europäisches l gegenüber. Aelteres r hat sich also bei einigen Völkern gespalten und sich theils als r, theils als l festgesetzt, ohne dass es bisher gelungen ist, in jedem Falle einen Grund für die Wahl des einen oder des andern zu finden. Ja im Griechischen selbst stehen die offenbar zu- sammen gehörigen Verben amergo und amelgo dem einen sanskr. mrg' gegenüber, einer der einleuchtendsten Beweise dafür, dass wir den Begriff Spaltung im Sprachleben nicht entbehren können. Eine "Laune der Sprache" braucht des- halb nicht behauptet zu werden. Das negative Präfix heisst sanskr. iran. griech. umbr. osk. an, aber lat. in, deutsch un. Man bringt den mundartlichen Lautwechsel nicht aus der Welt. Gewiss hat die Wissenschaft überall jeden einzelnen Fall der Art womöglich auf die Anlässe zu prüfen, aber auch wenn es
phol. Unters. III, 92 selbst diese Möglichkeit nicht einräumen zu wollen. Er geht dabei von einem jener Axiome aus, deren Werth wir im ersten Abschnitt dieser Schrift erwogen. „Die Annahme, dass unter ganz denselben Verhältnissen ein Laut in einem Theil der Formen auf diesem, in einem andern Theil auf jenem Wege umgestaltet worden sei — etwa in Folge der Laune der sprechenden —, widerstreitet den heutzutage mehr und mehr zur Geltung kommenden methodologischen Prin- cipien durchaus“. Meiner Ansicht nach kommt es auf der- artige a priori construirte Principien viel weniger an als auf die Thatsachen der Sprachen und deren wahrscheinlichste Deu- tung. Bei der Verschiedenheit der Mundarten begegnen wir ja häufig einem fürs erste wenigstens unerklärten mannichfal- tigen Wechsel der Laute und gerade vorzugsweise der voca- lischen. Wer hat einen Grund dafür gefunden, dass im Arka- dischen dem ἄλλο aller andern Mundarten ἄλλυ gegenüber steht, wer einen Grund dafür, dass das lat. inter im Oskischen anter lautet? Was von Mundarten gilt, kann doch auch von Sprachen eines Stammes behauptet werden. In einer grossen Reihe von Fällen steht arischem r, wie man längst erkannt hat, ein europäisches l gegenüber. Aelteres r hat sich also bei einigen Völkern gespalten und sich theils als r, theils als l festgesetzt, ohne dass es bisher gelungen ist, in jedem Falle einen Grund für die Wahl des einen oder des andern zu finden. Ja im Griechischen selbst stehen die offenbar zu- sammen gehörigen Verben ἀμέργω und ἀμέλγω dem einen sanskr. mṛg' gegenüber, einer der einleuchtendsten Beweise dafür, dass wir den Begriff Spaltung im Sprachleben nicht entbehren können. Eine „Laune der Sprache“ braucht des- halb nicht behauptet zu werden. Das negative Präfix heisst sanskr. iran. griech. umbr. osk. an, aber lat. in, deutsch un. Man bringt den mundartlichen Lautwechsel nicht aus der Welt. Gewiss hat die Wissenschaft überall jeden einzelnen Fall der Art womöglich auf die Anlässe zu prüfen, aber auch wenn es
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Laune der sprechenden —, widerstreitet den heutzutage mehr
und mehr zur Geltung kommenden methodologischen Prin-
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artige a priori construirte Principien viel weniger an als auf
die Thatsachen der Sprachen und deren wahrscheinlichste Deu-
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ja häufig einem fürs erste wenigstens unerklärten mannichfal-
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lischen. Wer hat einen Grund dafür gefunden, dass im Arka-
dischen dem ἄλλο aller andern Mundarten ἄλλυ gegenüber
steht, wer einen Grund dafür, dass das lat. inter im Oskischen
anter lautet? Was von Mundarten gilt, kann doch auch von
Sprachen eines Stammes behauptet werden. In einer grossen
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hat, ein europäisches l gegenüber. Aelteres r hat sich also
bei einigen Völkern gespalten und sich theils als r, theils
als l festgesetzt, ohne dass es bisher gelungen ist, in jedem
Falle einen Grund für die Wahl des einen oder des andern
zu finden. Ja im Griechischen selbst stehen die offenbar zu-
sammen gehörigen Verben ἀμέργω und ἀμέλγω dem einen
sanskr. mṛg' gegenüber, einer der einleuchtendsten Beweise
dafür, dass wir den Begriff Spaltung im Sprachleben nicht
entbehren können. Eine „Laune der Sprache“ braucht des-
halb nicht behauptet zu werden. Das negative Präfix heisst
sanskr. iran. griech. umbr. osk. an, aber lat. in, deutsch un.
Man bringt den mundartlichen Lautwechsel nicht aus der Welt.
Gewiss hat die Wissenschaft überall jeden einzelnen Fall der
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Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885/101>, abgerufen am 05.02.2025.
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