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Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879.

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I. Der Urstand nach kirchlicher Ueberlieferung.
heiligen Geistes oder diejenige Adams vor dem Falle? Die Antwort
lautet: die göttlichen Dinge und die Glaubensgeheimnisse hätten
allerdings die Apostel, dank Christi Offenbarung, vollkommener
gewußt; aber in Bezug auf eine "vollständige und umfassende
Kenntniß aller natürlichen und dem Menschen nützlichen Dinge sei
Adam wie allen Menschen so auch den Aposteln sowohl extensiv als
intensiv überlegen gewesen!" -- Selbst der sonst vielfach auf Mäßi-
gung und Herabminderung der Ueberschwenglichkeiten seiner schola-
stischen Vorgänger ausgehende Hollaz schildert die Wissenschaft Adams
als eine "vorzügliche und für den Urstand ausreichende"; nur sei sie
nicht schauende Gotteserkenntniß (cognitio Dei intuitiva) gewesen,
dergleichen uns Menschen nicht auf Erden, sondern erst im Himmel
zu Theil werden könne. Bei seinem Zeitgenossen, dem Wittenberger
J. Deutschmann (+ 1706), war die Annahme einer auf besondrer
Erleuchtung beruhenden Vorzüglichkeit des Wissens Adams um gött-
liche Dinge so festgewurzelt, daß derselbe 1689 eine "Theologie
Adams, des ersten wahren Lutheraners" drucken ließ1). Schon Calo-
vius, dessen Exegese der urgeschichtlichen Abschnitte der Genesis Luthers
naiv-gemüthliche und tief fromme Weise mit einem künstlich schemati-
sirenden scholastischen Verfahren verknüpft, charakterisirte das Paradies
als eine "Uebungsschule der Frömmigkeit" (schola et gymnasium
pietatis
) für die Menschen, als einen "Sitz der Kirche", einen
"Palast des Beherrschers der Erde", ein "Vorbild des ewigen
Lebens". Diese verschiednen Bedeutungen motivirte er durch Angabe
eines sechsfachen Zweckes der Erschaffung des Paradieses; dasselbe
habe den Menschen dienen sollen 1) zur königlichen Wohnstätte,
2) zur Bewachung wider den Teufel, 3) zur Bebauung, 4) zur
Frömmigkeitsübung mittelst des Baumes der Erkenntniß und des-
jenigen des Lebens (-- die er nach Luthers Vorgange als eine Art
von heiligen Hainen oder Naturtempeln zur Anbetung Gottes denkt,

1) Vgl. auch J. H. Majus, Sciagraphia philosophiae Adami etc.,
Francofurti
1711, sowie J. W. Feuerlin, De Adami logica, metaphysica,
mathesi, philos. practica et libris. Altorf
1717.

I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.
heiligen Geiſtes oder diejenige Adams vor dem Falle? Die Antwort
lautet: die göttlichen Dinge und die Glaubensgeheimniſſe hätten
allerdings die Apoſtel, dank Chriſti Offenbarung, vollkommener
gewußt; aber in Bezug auf eine „vollſtändige und umfaſſende
Kenntniß aller natürlichen und dem Menſchen nützlichen Dinge ſei
Adam wie allen Menſchen ſo auch den Apoſteln ſowohl extenſiv als
intenſiv überlegen geweſen!‟ — Selbſt der ſonſt vielfach auf Mäßi-
gung und Herabminderung der Ueberſchwenglichkeiten ſeiner ſchola-
ſtiſchen Vorgänger ausgehende Hollaz ſchildert die Wiſſenſchaft Adams
als eine „vorzügliche und für den Urſtand ausreichende‟; nur ſei ſie
nicht ſchauende Gotteserkenntniß (cognitio Dei intuitiva) geweſen,
dergleichen uns Menſchen nicht auf Erden, ſondern erſt im Himmel
zu Theil werden könne. Bei ſeinem Zeitgenoſſen, dem Wittenberger
J. Deutſchmann († 1706), war die Annahme einer auf beſondrer
Erleuchtung beruhenden Vorzüglichkeit des Wiſſens Adams um gött-
liche Dinge ſo feſtgewurzelt, daß derſelbe 1689 eine „Theologie
Adams, des erſten wahren Lutheraners‟ drucken ließ1). Schon Calo-
vius, deſſen Exegeſe der urgeſchichtlichen Abſchnitte der Geneſis Luthers
naiv-gemüthliche und tief fromme Weiſe mit einem künſtlich ſchemati-
ſirenden ſcholaſtiſchen Verfahren verknüpft, charakteriſirte das Paradies
als eine „Uebungsſchule der Frömmigkeit‟ (schola et gymnasium
pietatis
) für die Menſchen, als einen „Sitz der Kirche‟, einen
„Palaſt des Beherrſchers der Erde‟, ein „Vorbild des ewigen
Lebens‟. Dieſe verſchiednen Bedeutungen motivirte er durch Angabe
eines ſechsfachen Zweckes der Erſchaffung des Paradieſes; daſſelbe
habe den Menſchen dienen ſollen 1) zur königlichen Wohnſtätte,
2) zur Bewachung wider den Teufel, 3) zur Bebauung, 4) zur
Frömmigkeitsübung mittelſt des Baumes der Erkenntniß und des-
jenigen des Lebens (— die er nach Luthers Vorgange als eine Art
von heiligen Hainen oder Naturtempeln zur Anbetung Gottes denkt,

1) Vgl. auch J. H. Majus, Sciagraphia philosophiae Adami etc.,
Francofurti
1711, ſowie J. W. Feuerlin, De Adami logica, metaphysica,
mathesi, philos. practica et libris. Altorf
1717.
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[25/0035] I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung. heiligen Geiſtes oder diejenige Adams vor dem Falle? Die Antwort lautet: die göttlichen Dinge und die Glaubensgeheimniſſe hätten allerdings die Apoſtel, dank Chriſti Offenbarung, vollkommener gewußt; aber in Bezug auf eine „vollſtändige und umfaſſende Kenntniß aller natürlichen und dem Menſchen nützlichen Dinge ſei Adam wie allen Menſchen ſo auch den Apoſteln ſowohl extenſiv als intenſiv überlegen geweſen!‟ — Selbſt der ſonſt vielfach auf Mäßi- gung und Herabminderung der Ueberſchwenglichkeiten ſeiner ſchola- ſtiſchen Vorgänger ausgehende Hollaz ſchildert die Wiſſenſchaft Adams als eine „vorzügliche und für den Urſtand ausreichende‟; nur ſei ſie nicht ſchauende Gotteserkenntniß (cognitio Dei intuitiva) geweſen, dergleichen uns Menſchen nicht auf Erden, ſondern erſt im Himmel zu Theil werden könne. Bei ſeinem Zeitgenoſſen, dem Wittenberger J. Deutſchmann († 1706), war die Annahme einer auf beſondrer Erleuchtung beruhenden Vorzüglichkeit des Wiſſens Adams um gött- liche Dinge ſo feſtgewurzelt, daß derſelbe 1689 eine „Theologie Adams, des erſten wahren Lutheraners‟ drucken ließ 1). Schon Calo- vius, deſſen Exegeſe der urgeſchichtlichen Abſchnitte der Geneſis Luthers naiv-gemüthliche und tief fromme Weiſe mit einem künſtlich ſchemati- ſirenden ſcholaſtiſchen Verfahren verknüpft, charakteriſirte das Paradies als eine „Uebungsſchule der Frömmigkeit‟ (schola et gymnasium pietatis) für die Menſchen, als einen „Sitz der Kirche‟, einen „Palaſt des Beherrſchers der Erde‟, ein „Vorbild des ewigen Lebens‟. Dieſe verſchiednen Bedeutungen motivirte er durch Angabe eines ſechsfachen Zweckes der Erſchaffung des Paradieſes; daſſelbe habe den Menſchen dienen ſollen 1) zur königlichen Wohnſtätte, 2) zur Bewachung wider den Teufel, 3) zur Bebauung, 4) zur Frömmigkeitsübung mittelſt des Baumes der Erkenntniß und des- jenigen des Lebens (— die er nach Luthers Vorgange als eine Art von heiligen Hainen oder Naturtempeln zur Anbetung Gottes denkt, 1) Vgl. auch J. H. Majus, Sciagraphia philosophiae Adami etc., Francofurti 1711, ſowie J. W. Feuerlin, De Adami logica, metaphysica, mathesi, philos. practica et libris. Altorf 1717.

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Zitationshilfe: Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879, S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879/35>, abgerufen am 25.04.2024.