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Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879.

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Einleitung.

Also wirklich?! Die Annahme eines Urstands wäre thatsächlich
preiszugeben? Von ihr wäre nur das als Kern übrig zu lassen,
was als Kern einer Urstandslehre in Wahrheit nicht mehr gelten
kann: ein nicht der geschichtlichen Vergangenheit, sondern nur der
Zukunft angehöriges Jdeal der Gottähnlichkeit? Der Naturforschung
allein, und zwar der Zoologie in Verbindung mit der Physiologie
des Menschen, oder kürzer der "Anthropogenie", wäre die Ent-
scheidung darüber zu überlassen, was der Mensch von Haus aus
und abgesehen von der Sünde gewesen? Die Kirchenlehre von einem
sündlosen Urzustande vor dem Beginne der sündigen Entwicklung
unsres Geschlechts wäre als eine "der heil. Schrift fremde Ueber-
treibung" zu verurtheilen und für das Product einer exaltirten
"Phantasieanschauung" zu halten? Und wenn vielleicht etwas wie
ein goldnes Zeitalter anzunehmen, so müßte auch es schon als ein
Entwicklungsproduct urkräftiger Geschlechter des frühesten Alterthums
gedacht, es dürfte aber "nicht in die erste Kindheit unseres Geschlechts"
verlegt werden?

Für Viele sind diese Fragen schon längst nicht mehr Fragen.
Wir müssen aber im Jnteresse beider, sowohl der kirchlichen Theologie
als der Zweige der Natur- und Alterthumswissenschaft, welche man
ihr hier gern substituiren möchte, feierlich dawider protestiren, daß
man die Sache als in dem bekannten Sinne abgethan und erledigt
betrachte. Wir behaupten die Geschichtlichkeit eines sündlosen und
seligen Urstandes der Menschheit als nicht zu entbehrende Voraus-
setzung für das Verständniß der Menschheitsgeschichte überhaupt, nach
ihrer religiösen wie nach ihrer profanen Seite. Und nicht als
bloßes Postulat sprechen wir dieß aus. Wir behaupten einen
reineren und höheren Urstand an der Spitze der
Menschheitsentwicklung nicht als bloßen Glaubenssatz,
sondern als eine durch schwerwiegende Zeugnisse auch

1878, S. 505. 536. -- Desselben Vortrag im Berl. Unionsverein (v. 24. Jan.
1879) über "Christenthum und Naturwissenschaft."
Einleitung.

Alſo wirklich?! Die Annahme eines Urſtands wäre thatſächlich
preiszugeben? Von ihr wäre nur das als Kern übrig zu laſſen,
was als Kern einer Urſtandslehre in Wahrheit nicht mehr gelten
kann: ein nicht der geſchichtlichen Vergangenheit, ſondern nur der
Zukunft angehöriges Jdeal der Gottähnlichkeit? Der Naturforſchung
allein, und zwar der Zoologie in Verbindung mit der Phyſiologie
des Menſchen, oder kürzer der „Anthropogenie‟, wäre die Ent-
ſcheidung darüber zu überlaſſen, was der Menſch von Haus aus
und abgeſehen von der Sünde geweſen? Die Kirchenlehre von einem
ſündloſen Urzuſtande vor dem Beginne der ſündigen Entwicklung
unſres Geſchlechts wäre als eine „der heil. Schrift fremde Ueber-
treibung‟ zu verurtheilen und für das Product einer exaltirten
„Phantaſieanſchauung‟ zu halten? Und wenn vielleicht etwas wie
ein goldnes Zeitalter anzunehmen, ſo müßte auch es ſchon als ein
Entwicklungsproduct urkräftiger Geſchlechter des früheſten Alterthums
gedacht, es dürfte aber „nicht in die erſte Kindheit unſeres Geſchlechts‟
verlegt werden?

Für Viele ſind dieſe Fragen ſchon längſt nicht mehr Fragen.
Wir müſſen aber im Jntereſſe beider, ſowohl der kirchlichen Theologie
als der Zweige der Natur- und Alterthumswiſſenſchaft, welche man
ihr hier gern ſubſtituiren möchte, feierlich dawider proteſtiren, daß
man die Sache als in dem bekannten Sinne abgethan und erledigt
betrachte. Wir behaupten die Geſchichtlichkeit eines ſündloſen und
ſeligen Urſtandes der Menſchheit als nicht zu entbehrende Voraus-
ſetzung für das Verſtändniß der Menſchheitsgeſchichte überhaupt, nach
ihrer religiöſen wie nach ihrer profanen Seite. Und nicht als
bloßes Poſtulat ſprechen wir dieß aus. Wir behaupten einen
reineren und höheren Urſtand an der Spitze der
Menſchheitsentwicklung nicht als bloßen Glaubensſatz,
ſondern als eine durch ſchwerwiegende Zeugniſſe auch

1878, S. 505. 536. — Deſſelben Vortrag im Berl. Unionsverein (v. 24. Jan.
1879) über „Chriſtenthum und Naturwiſſenſchaft.‟
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[7/0017] Einleitung. Alſo wirklich?! Die Annahme eines Urſtands wäre thatſächlich preiszugeben? Von ihr wäre nur das als Kern übrig zu laſſen, was als Kern einer Urſtandslehre in Wahrheit nicht mehr gelten kann: ein nicht der geſchichtlichen Vergangenheit, ſondern nur der Zukunft angehöriges Jdeal der Gottähnlichkeit? Der Naturforſchung allein, und zwar der Zoologie in Verbindung mit der Phyſiologie des Menſchen, oder kürzer der „Anthropogenie‟, wäre die Ent- ſcheidung darüber zu überlaſſen, was der Menſch von Haus aus und abgeſehen von der Sünde geweſen? Die Kirchenlehre von einem ſündloſen Urzuſtande vor dem Beginne der ſündigen Entwicklung unſres Geſchlechts wäre als eine „der heil. Schrift fremde Ueber- treibung‟ zu verurtheilen und für das Product einer exaltirten „Phantaſieanſchauung‟ zu halten? Und wenn vielleicht etwas wie ein goldnes Zeitalter anzunehmen, ſo müßte auch es ſchon als ein Entwicklungsproduct urkräftiger Geſchlechter des früheſten Alterthums gedacht, es dürfte aber „nicht in die erſte Kindheit unſeres Geſchlechts‟ verlegt werden? Für Viele ſind dieſe Fragen ſchon längſt nicht mehr Fragen. Wir müſſen aber im Jntereſſe beider, ſowohl der kirchlichen Theologie als der Zweige der Natur- und Alterthumswiſſenſchaft, welche man ihr hier gern ſubſtituiren möchte, feierlich dawider proteſtiren, daß man die Sache als in dem bekannten Sinne abgethan und erledigt betrachte. Wir behaupten die Geſchichtlichkeit eines ſündloſen und ſeligen Urſtandes der Menſchheit als nicht zu entbehrende Voraus- ſetzung für das Verſtändniß der Menſchheitsgeſchichte überhaupt, nach ihrer religiöſen wie nach ihrer profanen Seite. Und nicht als bloßes Poſtulat ſprechen wir dieß aus. Wir behaupten einen reineren und höheren Urſtand an der Spitze der Menſchheitsentwicklung nicht als bloßen Glaubensſatz, ſondern als eine durch ſchwerwiegende Zeugniſſe auch 2) 2) 1878, S. 505. 536. — Deſſelben Vortrag im Berl. Unionsverein (v. 24. Jan. 1879) über „Chriſtenthum und Naturwiſſenſchaft.‟

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Zitationshilfe: Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879/17>, abgerufen am 19.04.2024.