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Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879.

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Einleitung.
bezeichnet, über welche keiner der neueren Vorkämpfer des theologischen
Liberalismus hinausgekommen ist. Hase's Kritik der kirchlichen
Urstandslehre rügt es als "eine der heil. Schrift fremde Ueber-
treibung, daß die ursprüngliche Unschuld in angeborner oder an-
gethaner Heiligkeit bestanden habe"; vielmehr sei "die begriffsmäßige
Vollkommenheit des Menschen in der Phantasieanschauung zu einer
einst wirklichen geworden." Die wahre Bedeutung des göttlichen
Ebenbilds liege demgemäß "weniger in einer verlornen Vergangenheit
als in einer designirten Zukunft"; doch sei "für den Volksunterricht
der in der heiligen Sage sinnreich dargestellte göttliche Ursprung
der Menschheit hervorzuheben". Rothe, der "Heilige des Protestan-
tenvereins," stand zwar in mehrfacher sonstiger Hinsicht dem Stand-
punkte kirchlicher Frömmigkeit näher, als die Meisten seiner modern-
liberalen Bewunderer; aber im Lehrstücke vom Urstand erhob er
sich kaum bis zu jener Position Schleiermachers. Hegelianisirend,
mit ausdrücklicher Berufung auf Vatke, meinte er, "man sehe sich zu
der Behauptung hingedrängt, daß die sittliche Entwicklung der
Menschheit nothwendig über die Sünde hinweggehe, ja von ihr aus-
gehe"; es "liege im Begriff der Schöpfung selbst, daß die persön-
liche Creatur aus der Materie -- -- zunächst nicht anders herausge-
arbeitet werden könne, denn als unmittelbar noch durch die Materie
obruirte und verunreinigte, somit auch in ihrer Persönlichkeit alterirte,
kurz als sündige;" für diese Annahme spreche auch die heil. Schrift,
wenigstens das N. Test., das die Gottbildlichkeit deutlich als etwas
erst Zukünftiges, vom Menschen selbstthätig zu Erringendes darstelle
und eine ursprüngliche Erschaffung desselben als bloß natürlichen,
mithin nothwendig sündigen, in der Stelle 1 Cor. 15, 47 bestimmt
lehre. Jn ähnlicher Weise sucht Biedermann den Grund der Sünde
in der von Gott selbst dem Menschen anerschaffnen fleischlichen
Natur, leugnet die geschichtliche Wirklichkeit eines ursprünglichen
Standes der Jntegrität, und setzt das göttliche Ebenbild in die dem
Menschen von Natur immanente Bestimmung, welche durch die
Sünde noch nicht verwirklicht sei. Lipsius läßt als die "Urgestalt

Einleitung.
bezeichnet, über welche keiner der neueren Vorkämpfer des theologiſchen
Liberalismus hinausgekommen iſt. Haſe’s Kritik der kirchlichen
Urſtandslehre rügt es als „eine der heil. Schrift fremde Ueber-
treibung, daß die urſprüngliche Unſchuld in angeborner oder an-
gethaner Heiligkeit beſtanden habe‟; vielmehr ſei „die begriffsmäßige
Vollkommenheit des Menſchen in der Phantaſieanſchauung zu einer
einſt wirklichen geworden.‟ Die wahre Bedeutung des göttlichen
Ebenbilds liege demgemäß „weniger in einer verlornen Vergangenheit
als in einer deſignirten Zukunft‟; doch ſei „für den Volksunterricht
der in der heiligen Sage ſinnreich dargeſtellte göttliche Urſprung
der Menſchheit hervorzuheben‟. Rothe, der „Heilige des Proteſtan-
tenvereins,‟ ſtand zwar in mehrfacher ſonſtiger Hinſicht dem Stand-
punkte kirchlicher Frömmigkeit näher, als die Meiſten ſeiner modern-
liberalen Bewunderer; aber im Lehrſtücke vom Urſtand erhob er
ſich kaum bis zu jener Poſition Schleiermachers. Hegelianiſirend,
mit ausdrücklicher Berufung auf Vatke, meinte er, „man ſehe ſich zu
der Behauptung hingedrängt, daß die ſittliche Entwicklung der
Menſchheit nothwendig über die Sünde hinweggehe, ja von ihr aus-
gehe‟; es „liege im Begriff der Schöpfung ſelbſt, daß die perſön-
liche Creatur aus der Materie — — zunächſt nicht anders herausge-
arbeitet werden könne, denn als unmittelbar noch durch die Materie
obruirte und verunreinigte, ſomit auch in ihrer Perſönlichkeit alterirte,
kurz als ſündige;‟ für dieſe Annahme ſpreche auch die heil. Schrift,
wenigſtens das N. Teſt., das die Gottbildlichkeit deutlich als etwas
erſt Zukünftiges, vom Menſchen ſelbſtthätig zu Erringendes darſtelle
und eine urſprüngliche Erſchaffung deſſelben als bloß natürlichen,
mithin nothwendig ſündigen, in der Stelle 1 Cor. 15, 47 beſtimmt
lehre. Jn ähnlicher Weiſe ſucht Biedermann den Grund der Sünde
in der von Gott ſelbſt dem Menſchen anerſchaffnen fleiſchlichen
Natur, leugnet die geſchichtliche Wirklichkeit eines urſprünglichen
Standes der Jntegrität, und ſetzt das göttliche Ebenbild in die dem
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[5/0015] Einleitung. bezeichnet, über welche keiner der neueren Vorkämpfer des theologiſchen Liberalismus hinausgekommen iſt. Haſe’s Kritik der kirchlichen Urſtandslehre rügt es als „eine der heil. Schrift fremde Ueber- treibung, daß die urſprüngliche Unſchuld in angeborner oder an- gethaner Heiligkeit beſtanden habe‟; vielmehr ſei „die begriffsmäßige Vollkommenheit des Menſchen in der Phantaſieanſchauung zu einer einſt wirklichen geworden.‟ Die wahre Bedeutung des göttlichen Ebenbilds liege demgemäß „weniger in einer verlornen Vergangenheit als in einer deſignirten Zukunft‟; doch ſei „für den Volksunterricht der in der heiligen Sage ſinnreich dargeſtellte göttliche Urſprung der Menſchheit hervorzuheben‟. Rothe, der „Heilige des Proteſtan- tenvereins,‟ ſtand zwar in mehrfacher ſonſtiger Hinſicht dem Stand- punkte kirchlicher Frömmigkeit näher, als die Meiſten ſeiner modern- liberalen Bewunderer; aber im Lehrſtücke vom Urſtand erhob er ſich kaum bis zu jener Poſition Schleiermachers. Hegelianiſirend, mit ausdrücklicher Berufung auf Vatke, meinte er, „man ſehe ſich zu der Behauptung hingedrängt, daß die ſittliche Entwicklung der Menſchheit nothwendig über die Sünde hinweggehe, ja von ihr aus- gehe‟; es „liege im Begriff der Schöpfung ſelbſt, daß die perſön- liche Creatur aus der Materie — — zunächſt nicht anders herausge- arbeitet werden könne, denn als unmittelbar noch durch die Materie obruirte und verunreinigte, ſomit auch in ihrer Perſönlichkeit alterirte, kurz als ſündige;‟ für dieſe Annahme ſpreche auch die heil. Schrift, wenigſtens das N. Teſt., das die Gottbildlichkeit deutlich als etwas erſt Zukünftiges, vom Menſchen ſelbſtthätig zu Erringendes darſtelle und eine urſprüngliche Erſchaffung deſſelben als bloß natürlichen, mithin nothwendig ſündigen, in der Stelle 1 Cor. 15, 47 beſtimmt lehre. Jn ähnlicher Weiſe ſucht Biedermann den Grund der Sünde in der von Gott ſelbſt dem Menſchen anerſchaffnen fleiſchlichen Natur, leugnet die geſchichtliche Wirklichkeit eines urſprünglichen Standes der Jntegrität, und ſetzt das göttliche Ebenbild in die dem Menſchen von Natur immanente Beſtimmung, welche durch die Sünde noch nicht verwirklicht ſei. Lipſius läßt als die „Urgeſtalt

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Zitationshilfe: Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879/15>, abgerufen am 19.04.2024.