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Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879.

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Einleitung.


Stand der Frage.

Die Annahme eines glücklichen Unschuldsstandes als Ausgangs-
punkts für die geschichtliche Entwicklung der Menschheit gehört nicht
zu denjenigen Bestandtheilen kirchlicher Lehrüberlieferung, welche das
moderne Zeitbewußtsein gelten läßt oder gar begünstigt. Soweit
dasselbe unter dem Banne jener "naturwissenschaftlichen" Weltansicht
steht, die eine Grenze zwischen Thier und Mensch überhaupt nicht
mehr anerkennt, also der Theologie überall die Zoologie zu sub-
stituiren sucht, hält es selbstverständlich jedwede, auch die bescheidenste
Formulirung der Annahme für gleichbedeutend mit albernem Aber-
glauben. Der Fortschrittsphilosophie des "reinen Monismus" er-
scheint nichts absurder, als die Anfänge unsrer Culturentwicklung
anderwärts als in den socialen Trieben und Jnstincten der höheren
Wirbelthiere suchen zu wollen. Selbst die niedere Thierwelt wird
von dieser Schule gelegentlich, wenn es den Ursprung der Religion
oder andrer Momente des Geisteslebens zu erklären gilt, mit herbei-
gezogen. Huxley meinte unlängst, falls es Lubbock gelänge, bei den
Ameisen u. a. auch religiöse Empfindungen nachzuweisen, so wäre
auch dieser Nachweis als eine interessante Bereicherung der --
Zoologie willkommen zu heißen. "Gerade die Existenz der Religion",
schreibt v. Hellwald, "ist, da ihre Wurzeln bis in die Thierwelt
hinabreichen, einer der kräftigsten schlagendsten Beweise für unsre
thierische Herkunft, für unser langes Emporarbeiten aus den aller-
tiefsten Culturstufen; -- wäre der Mensch, wie man so lange lehrte

Zöckler, Urstand. 1
Einleitung.


Stand der Frage.

Die Annahme eines glücklichen Unſchuldsſtandes als Ausgangs-
punkts für die geſchichtliche Entwicklung der Menſchheit gehört nicht
zu denjenigen Beſtandtheilen kirchlicher Lehrüberlieferung, welche das
moderne Zeitbewußtſein gelten läßt oder gar begünſtigt. Soweit
daſſelbe unter dem Banne jener „naturwiſſenſchaftlichen‟ Weltanſicht
ſteht, die eine Grenze zwiſchen Thier und Menſch überhaupt nicht
mehr anerkennt, alſo der Theologie überall die Zoologie zu ſub-
ſtituiren ſucht, hält es ſelbſtverſtändlich jedwede, auch die beſcheidenſte
Formulirung der Annahme für gleichbedeutend mit albernem Aber-
glauben. Der Fortſchrittsphiloſophie des „reinen Monismus‟ er-
ſcheint nichts abſurder, als die Anfänge unſrer Culturentwicklung
anderwärts als in den ſocialen Trieben und Jnſtincten der höheren
Wirbelthiere ſuchen zu wollen. Selbſt die niedere Thierwelt wird
von dieſer Schule gelegentlich, wenn es den Urſprung der Religion
oder andrer Momente des Geiſteslebens zu erklären gilt, mit herbei-
gezogen. Huxley meinte unlängſt, falls es Lubbock gelänge, bei den
Ameiſen u. a. auch religiöſe Empfindungen nachzuweiſen, ſo wäre
auch dieſer Nachweis als eine intereſſante Bereicherung der —
Zoologie willkommen zu heißen. „Gerade die Exiſtenz der Religion‟,
ſchreibt v. Hellwald, „iſt, da ihre Wurzeln bis in die Thierwelt
hinabreichen, einer der kräftigſten ſchlagendſten Beweiſe für unſre
thieriſche Herkunft, für unſer langes Emporarbeiten aus den aller-
tiefſten Culturſtufen; — wäre der Menſch, wie man ſo lange lehrte

Zöckler, Urſtand. 1
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[[1]/0011] Einleitung. Stand der Frage. Die Annahme eines glücklichen Unſchuldsſtandes als Ausgangs- punkts für die geſchichtliche Entwicklung der Menſchheit gehört nicht zu denjenigen Beſtandtheilen kirchlicher Lehrüberlieferung, welche das moderne Zeitbewußtſein gelten läßt oder gar begünſtigt. Soweit daſſelbe unter dem Banne jener „naturwiſſenſchaftlichen‟ Weltanſicht ſteht, die eine Grenze zwiſchen Thier und Menſch überhaupt nicht mehr anerkennt, alſo der Theologie überall die Zoologie zu ſub- ſtituiren ſucht, hält es ſelbſtverſtändlich jedwede, auch die beſcheidenſte Formulirung der Annahme für gleichbedeutend mit albernem Aber- glauben. Der Fortſchrittsphiloſophie des „reinen Monismus‟ er- ſcheint nichts abſurder, als die Anfänge unſrer Culturentwicklung anderwärts als in den ſocialen Trieben und Jnſtincten der höheren Wirbelthiere ſuchen zu wollen. Selbſt die niedere Thierwelt wird von dieſer Schule gelegentlich, wenn es den Urſprung der Religion oder andrer Momente des Geiſteslebens zu erklären gilt, mit herbei- gezogen. Huxley meinte unlängſt, falls es Lubbock gelänge, bei den Ameiſen u. a. auch religiöſe Empfindungen nachzuweiſen, ſo wäre auch dieſer Nachweis als eine intereſſante Bereicherung der — Zoologie willkommen zu heißen. „Gerade die Exiſtenz der Religion‟, ſchreibt v. Hellwald, „iſt, da ihre Wurzeln bis in die Thierwelt hinabreichen, einer der kräftigſten ſchlagendſten Beweiſe für unſre thieriſche Herkunft, für unſer langes Emporarbeiten aus den aller- tiefſten Culturſtufen; — wäre der Menſch, wie man ſo lange lehrte Zöckler, Urſtand. 1

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Zitationshilfe: Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879, S. [1]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879/11>, abgerufen am 29.03.2024.