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Zietz, Luise: Das Frauenwahlrecht[,] eine geschichtlich begründete Forderung. In: Frauenwahlrecht! Hrsg. zum Zweiten Sozialdemokratischen Frauentag. 12. Mai 1912, S. 4–6.

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Frauenwahlrecht
andersgeartete Umgebung mit ihren mannigfachen Ein-
flüssen weitet ihren Gesichtskreis, hebt ihren Jntellekt. Be-
freit von der starken Bindung durch das Heim, eine Bin-
dung, die gegeben war, solange die Familie die wichtigsten
Funktionen zur Erhaltung des Lebens ihrer Glieder selbst
leistete, kommt die Frau nun erst zum Bewußtsein ihrer
Kräfte und Talente, deren Entfaltung und Betätigung jetzt
mehr oder minder draußen in der großen sozialen Gemein-
schaft im Wettbewerb mit vielen sich vollzieht.

Zu dem Besag-
ten kommt noch
ein anderes. Unter
den gewandelten
wirtschaftlichen
und gesellschaft-
lichen Verhältnis-
sen lernt die Frau
auch ihr mütter-
liches und häusli-
ches Walten ganz
anders bewerten
als früher. Das
Gebären der Kin-
der und ihr Er-
ziehen zu tüchti-
gen, brauchbaren
Menschen verkör-
pert nicht etwa
nur die Erfüllung
einer Pflicht der
Frau dem Manne
gegenüber, son-
dern dieses Wal-
ten ist als die
höchste und be-
deutsamste Pflicht-
leistung im Jnter -
esse der Gesell-
schaft zu bewer-
ten. Durch sie wird
die Fortpflanzung
und Erhaltung der
Art gesichert, und
es werden gleich-
zeitig der Gesell -
schaft die Arbeits-
kräfte gegeben, die
den größten na-
tionalen Reichtum
bedeuten und die
Vorbedingung für
die Erhaltung und
Fortentwicklung
der Gesellschaft
selbst sind. Unter
großen persönli-
chen Opfern und
Gefahren erfüllen
die Frauen diese
Pflicht. Es sei nur
erinnert an die beträchtliche Zahl der Frauen, die bei der
Niederkunft ihr Leben einbüßen, die in den Wochen am Kind-
bettfieber sterben, nicht zu vergessen das große Heer Kranker
und Siecher, die infolge der Mutterschaft ihre Gesundheit
verloren haben.

Und das häusliche Walten der Frau? Von seiner Art
und seinem Umfang hängt in hohem Maße sowohl das
körperliche Wohlbefinden als das sittliche Niveau und die
geistige Weiterentwicklung der Familienmitglieder ab. Das
gilt vor allem von der Arbeiterfamilie. Wie weit es bei
ihrem geringen Einkommen möglich ist, ihr dennoch verhält-
nismäßig gute Mahlzeiten zu sichern, die Wohnung behag-[Spaltenumbruch] lich zu gestalten und die geistige Kultur unserer Zeit auch
den Ausgebeuteten etwas zugänglich zu machen: Das ist, von
außerhalb der Familie liegenden Umständen abgesehen, in
erster Linie abhängig von der Tüchtigkeit der Hausfrau und
von ihrer Fähigkeit, im Heime jene Atmosphäre zu er-
zeugen, in der geistigen Jnteressen belebt und befruchtet
werden. Freilich, ein riesengroßer Fleiß, die Anforderung
und Selbstlosigkeit einer Heldin gehören dazu, damit die
Frau unter dem Zwange der ungünstigen Umstände so
wirken kann. Von
diesem stillen Hel-
dentum unserer
Proletarierinnen
wird allerdings
draußen wenig er-
zählt. Für unsere
Kulturentwick-
lung und nicht zu-
letzt für den Be-
freiungskampf
der Arbeiterklasse
aber ist solches
Walten von höch-
ster Bedeutung.
Mutterschaft und
Hausfrauenpflich-
ten begründen un-
ter den gewandel-
ten Verhältnissen
ebenso wie die Er-
werbsarbeit den
Anspruch der Frau
auf das Wahlrecht.
Dieser Anspruch
wird um so zwin-
gender, je mehr
die Politik ein-
greift in das Leben
des Weibes und
es trifft im Guten
wie im Bösen, in
der Eigenschaft als
Mutter, als Ar-
beiterin oder
Staatsbürgerin.
Je mehr das ge-
schieht, desto leich-
ter und schneller
tritt die Notwen-
digkeit des Besitzes
politischer Rechte
klar in das Be-
wußtsein der Frau.

Die tägliche Er-
fahrung in der
Schule des Lebens
hämmert ihr die
Erkenntnis ein:
du bedarfst des
Wahlrechtes als
einer notwendigen, wertvollen Waffe, um selbstständig deine
Jnteressen gegen die Welt deiner bräuenden Feinde verteidigen
zu können; du brauchst dieses Recht, um deine Kräfte in den
Dienst der Gesellschaft stellen und einen Einfluß auf ihre Ge-
staltung ausüben zu können.

Die Erkenntnis, daß die Frau die höchsten Staatsbürger-
rechte beanspruchen darf, ja daß sie sie besitzen muß, löst das
kraftvolle Wollen aus, für die Eroberung dieser Rechte mit
leidenschaftlicher Hingabe, mit Energie und Ausdauer zu
kämpfen. Damit wird die Forderung des Frauenwahlrechts
in zunehmendem Maße der Ausdruck des Massenwillens,
und ihre Erfüllung rückt näher und näher.

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bedeuten und die
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die Frauen diese
Pflicht. Es sei nur
erinnert an die beträchtliche Zahl der Frauen, die bei der
Niederkunft ihr Leben einbüßen, die in den Wochen am Kind-
bettfieber sterben, nicht zu vergessen das große Heer Kranker
und Siecher, die infolge der Mutterschaft ihre Gesundheit
verloren haben.

Und das häusliche Walten der Frau? Von seiner Art
und seinem Umfang hängt in hohem Maße sowohl das
körperliche Wohlbefinden als das sittliche Niveau und die
geistige Weiterentwicklung der Familienmitglieder ab. Das
gilt vor allem von der Arbeiterfamilie. Wie weit es bei
ihrem geringen Einkommen möglich ist, ihr dennoch verhält-
nismäßig gute Mahlzeiten zu sichern, die Wohnung behag-[Spaltenumbruch] lich zu gestalten und die geistige Kultur unserer Zeit auch
den Ausgebeuteten etwas zugänglich zu machen: Das ist, von
außerhalb der Familie liegenden Umständen abgesehen, in
erster Linie abhängig von der Tüchtigkeit der Hausfrau und
von ihrer Fähigkeit, im Heime jene Atmosphäre zu er-
zeugen, in der geistigen Jnteressen belebt und befruchtet
werden. Freilich, ein riesengroßer Fleiß, die Anforderung
und Selbstlosigkeit einer Heldin gehören dazu, damit die
Frau unter dem Zwange der ungünstigen Umstände so
wirken kann. Von
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dentum unserer
Proletarierinnen
wird allerdings
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letzt für den Be-
freiungskampf
der Arbeiterklasse
aber ist solches
Walten von höch-
ster Bedeutung.
Mutterschaft und
Hausfrauenpflich-
ten begründen un-
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ten Verhältnissen
ebenso wie die Er-
werbsarbeit den
Anspruch der Frau
auf das Wahlrecht.
Dieser Anspruch
wird um so zwin-
gender, je mehr
die Politik ein-
greift in das Leben
des Weibes und
es trifft im Guten
wie im Bösen, in
der Eigenschaft als
Mutter, als Ar-
beiterin oder
Staatsbürgerin.
Je mehr das ge-
schieht, desto leich-
ter und schneller
tritt die Notwen-
digkeit des Besitzes
politischer Rechte
klar in das Be-
wußtsein der Frau.

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fahrung in der
Schule des Lebens
hämmert ihr die
Erkenntnis ein:
du bedarfst des
Wahlrechtes als
einer notwendigen, wertvollen Waffe, um selbstständig deine
Jnteressen gegen die Welt deiner bräuenden Feinde verteidigen
zu können; du brauchst dieses Recht, um deine Kräfte in den
Dienst der Gesellschaft stellen und einen Einfluß auf ihre Ge-
staltung ausüben zu können.

Die Erkenntnis, daß die Frau die höchsten Staatsbürger-
rechte beanspruchen darf, ja daß sie sie besitzen muß, löst das
kraftvolle Wollen aus, für die Eroberung dieser Rechte mit
leidenschaftlicher Hingabe, mit Energie und Ausdauer zu
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in zunehmendem Maße der Ausdruck des Massenwillens,
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[5/0002] Frauenwahlrecht andersgeartete Umgebung mit ihren mannigfachen Ein- flüssen weitet ihren Gesichtskreis, hebt ihren Jntellekt. Be- freit von der starken Bindung durch das Heim, eine Bin- dung, die gegeben war, solange die Familie die wichtigsten Funktionen zur Erhaltung des Lebens ihrer Glieder selbst leistete, kommt die Frau nun erst zum Bewußtsein ihrer Kräfte und Talente, deren Entfaltung und Betätigung jetzt mehr oder minder draußen in der großen sozialen Gemein- schaft im Wettbewerb mit vielen sich vollzieht. Zu dem Besag- ten kommt noch ein anderes. Unter den gewandelten wirtschaftlichen und gesellschaft- lichen Verhältnis- sen lernt die Frau auch ihr mütter- liches und häusli- ches Walten ganz anders bewerten als früher. Das Gebären der Kin- der und ihr Er- ziehen zu tüchti- gen, brauchbaren Menschen verkör- pert nicht etwa nur die Erfüllung einer Pflicht der Frau dem Manne gegenüber, son- dern dieses Wal- ten ist als die höchste und be- deutsamste Pflicht- leistung im Jnter - esse der Gesell- schaft zu bewer- ten. Durch sie wird die Fortpflanzung und Erhaltung der Art gesichert, und es werden gleich- zeitig der Gesell - schaft die Arbeits- kräfte gegeben, die den größten na- tionalen Reichtum bedeuten und die Vorbedingung für die Erhaltung und Fortentwicklung der Gesellschaft selbst sind. Unter großen persönli- chen Opfern und Gefahren erfüllen die Frauen diese Pflicht. Es sei nur erinnert an die beträchtliche Zahl der Frauen, die bei der Niederkunft ihr Leben einbüßen, die in den Wochen am Kind- bettfieber sterben, nicht zu vergessen das große Heer Kranker und Siecher, die infolge der Mutterschaft ihre Gesundheit verloren haben. Und das häusliche Walten der Frau? Von seiner Art und seinem Umfang hängt in hohem Maße sowohl das körperliche Wohlbefinden als das sittliche Niveau und die geistige Weiterentwicklung der Familienmitglieder ab. Das gilt vor allem von der Arbeiterfamilie. Wie weit es bei ihrem geringen Einkommen möglich ist, ihr dennoch verhält- nismäßig gute Mahlzeiten zu sichern, die Wohnung behag- lich zu gestalten und die geistige Kultur unserer Zeit auch den Ausgebeuteten etwas zugänglich zu machen: Das ist, von außerhalb der Familie liegenden Umständen abgesehen, in erster Linie abhängig von der Tüchtigkeit der Hausfrau und von ihrer Fähigkeit, im Heime jene Atmosphäre zu er- zeugen, in der geistigen Jnteressen belebt und befruchtet werden. Freilich, ein riesengroßer Fleiß, die Anforderung und Selbstlosigkeit einer Heldin gehören dazu, damit die Frau unter dem Zwange der ungünstigen Umstände so wirken kann. Von diesem stillen Hel- dentum unserer Proletarierinnen wird allerdings draußen wenig er- zählt. Für unsere Kulturentwick- lung und nicht zu- letzt für den Be- freiungskampf der Arbeiterklasse aber ist solches Walten von höch- ster Bedeutung. Mutterschaft und Hausfrauenpflich- ten begründen un- ter den gewandel- ten Verhältnissen ebenso wie die Er- werbsarbeit den Anspruch der Frau auf das Wahlrecht. Dieser Anspruch wird um so zwin- gender, je mehr die Politik ein- greift in das Leben des Weibes und es trifft im Guten wie im Bösen, in der Eigenschaft als Mutter, als Ar- beiterin oder Staatsbürgerin. Je mehr das ge- schieht, desto leich- ter und schneller tritt die Notwen- digkeit des Besitzes politischer Rechte klar in das Be- wußtsein der Frau. Die tägliche Er- fahrung in der Schule des Lebens hämmert ihr die Erkenntnis ein: du bedarfst des Wahlrechtes als einer notwendigen, wertvollen Waffe, um selbstständig deine Jnteressen gegen die Welt deiner bräuenden Feinde verteidigen zu können; du brauchst dieses Recht, um deine Kräfte in den Dienst der Gesellschaft stellen und einen Einfluß auf ihre Ge- staltung ausüben zu können. Die Erkenntnis, daß die Frau die höchsten Staatsbürger- rechte beanspruchen darf, ja daß sie sie besitzen muß, löst das kraftvolle Wollen aus, für die Eroberung dieser Rechte mit leidenschaftlicher Hingabe, mit Energie und Ausdauer zu kämpfen. Damit wird die Forderung des Frauenwahlrechts in zunehmendem Maße der Ausdruck des Massenwillens, und ihre Erfüllung rückt näher und näher.

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Zitationshilfe: Zietz, Luise: Das Frauenwahlrecht[,] eine geschichtlich begründete Forderung. In: Frauenwahlrecht! Hrsg. zum Zweiten Sozialdemokratischen Frauentag. 12. Mai 1912, S. 4–6, hier S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zietz_frauenwahlrecht_1912/2>, abgerufen am 18.04.2024.