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Zeller, Eduard: Über Bedeutung und Aufgabe der Erkenntniss-Theorie. Ein akademischer Vortrag. Heidelberg, 1862.

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wird es sich für uns nicht darum handeln können, irgend
ein Gegebenes, sei es nun innerlich oder äusserlich ge¬
geben, als ein Letztes und unbedingt Sicheres zu Grunde
zu legen, und das Uebrige daraus abzuleiten; sondern
alles Gegebene gilt uns zunächst nur für eine Erschei¬
nung unseres Bewusstseins, deren objektive Gründe erst
zu untersuchen, aus der allgemeine Sätze und Begriffe
nur durch ein zusammengesetztes Verfahren zu gewinnen
sind. Unser Standpunkt ist mit Einem Wort nicht der
des Dogmatismus, weder des empiristischen noch des
spekulativen, sondern der des Kriticismus. Wir können
nicht erwarten, eine Erkenntniss des Wirklichen anders,
als von der Erfahrung aus, zu gewinnen; wir werden
aber ebensowenig vergessen, dass in der Erfahrung selbst
schon apriorische Bestandtheile enthalten sind, durch
deren Ausscheidung wir erst das objektiv Gegebene rein
erhalten, und dass die allgemeinen Gesetze und die ver¬
borgenen Gründe der Dinge überhaupt nicht durch die
Erfahrung als solche, sondern durch's Denken erkannt
werden. Ist daher auch eine möglichst genaue und voll¬
ständige Beobachtung der erste Schritt zum Wissen, so
müssen sich doch hieran zwei weitere anschliessen, wenn
wir wirklich zu einem sicheren Wissen gelangen wollen.
Der erste derselben besteht in der Unterscheidung der
Elemente unserer Erfahrung, und umfasst alle die
Operationen, welche den Zweck haben, den objektiven
Thatbestand als solchen, von allen subjektiven Zuthaten
befreit, zur Anschauung zu bringen. Sind hiemit die

wird es sich für uns nicht darum handeln können, irgend
ein Gegebenes, sei es nun innerlich oder äusserlich ge¬
geben, als ein Letztes und unbedingt Sicheres zu Grunde
zu legen, und das Uebrige daraus abzuleiten; sondern
alles Gegebene gilt uns zunächst nur für eine Erschei¬
nung unseres Bewusstseins, deren objektive Gründe erst
zu untersuchen, aus der allgemeine Sätze und Begriffe
nur durch ein zusammengesetztes Verfahren zu gewinnen
sind. Unser Standpunkt ist mit Einem Wort nicht der
des Dogmatismus, weder des empiristischen noch des
spekulativen, sondern der des Kriticismus. Wir können
nicht erwarten, eine Erkenntniss des Wirklichen anders,
als von der Erfahrung aus, zu gewinnen; wir werden
aber ebensowenig vergessen, dass in der Erfahrung selbst
schon apriorische Bestandtheile enthalten sind, durch
deren Ausscheidung wir erst das objektiv Gegebene rein
erhalten, und dass die allgemeinen Gesetze und die ver¬
borgenen Gründe der Dinge überhaupt nicht durch die
Erfahrung als solche, sondern durch’s Denken erkannt
werden. Ist daher auch eine möglichst genaue und voll¬
ständige Beobachtung der erste Schritt zum Wissen, so
müssen sich doch hieran zwei weitere anschliessen, wenn
wir wirklich zu einem sicheren Wissen gelangen wollen.
Der erste derselben besteht in der Unterscheidung der
Elemente unserer Erfahrung, und umfasst alle die
Operationen, welche den Zweck haben, den objektiven
Thatbestand als solchen, von allen subjektiven Zuthaten
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[28/0032] wird es sich für uns nicht darum handeln können, irgend ein Gegebenes, sei es nun innerlich oder äusserlich ge¬ geben, als ein Letztes und unbedingt Sicheres zu Grunde zu legen, und das Uebrige daraus abzuleiten; sondern alles Gegebene gilt uns zunächst nur für eine Erschei¬ nung unseres Bewusstseins, deren objektive Gründe erst zu untersuchen, aus der allgemeine Sätze und Begriffe nur durch ein zusammengesetztes Verfahren zu gewinnen sind. Unser Standpunkt ist mit Einem Wort nicht der des Dogmatismus, weder des empiristischen noch des spekulativen, sondern der des Kriticismus. Wir können nicht erwarten, eine Erkenntniss des Wirklichen anders, als von der Erfahrung aus, zu gewinnen; wir werden aber ebensowenig vergessen, dass in der Erfahrung selbst schon apriorische Bestandtheile enthalten sind, durch deren Ausscheidung wir erst das objektiv Gegebene rein erhalten, und dass die allgemeinen Gesetze und die ver¬ borgenen Gründe der Dinge überhaupt nicht durch die Erfahrung als solche, sondern durch’s Denken erkannt werden. Ist daher auch eine möglichst genaue und voll¬ ständige Beobachtung der erste Schritt zum Wissen, so müssen sich doch hieran zwei weitere anschliessen, wenn wir wirklich zu einem sicheren Wissen gelangen wollen. Der erste derselben besteht in der Unterscheidung der Elemente unserer Erfahrung, und umfasst alle die Operationen, welche den Zweck haben, den objektiven Thatbestand als solchen, von allen subjektiven Zuthaten befreit, zur Anschauung zu bringen. Sind hiemit die

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Zitationshilfe: Zeller, Eduard: Über Bedeutung und Aufgabe der Erkenntniss-Theorie. Ein akademischer Vortrag. Heidelberg, 1862, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zeller_erkenntnistheorie_1862/32>, abgerufen am 28.03.2024.