Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wundt, Wilhelm: Handbuch der medicinischen Physik. Erlangen, 1867.

Bild:
<< vorherige Seite

Von der Schwere.
meinen die Lage des Schwerpunktes in dem Körper verändert. Denn
da der Schwerpunkt derjenige Punkt ist, von dem aus immer nach
je zwei entgegengesetzten Richtungen sich gleich viel Masse befindet,
so muss auch jede Veränderung in der Vertheilung der Masse verän-
dernd auf die Lage des Schwerpunktes wirken. Nun besitzt der
Mensch die Fähigkeit des Gestaltwechsels in hohem Grade, und
sein Schwerpunkt hat dem entsprechend eine ziemlich grosse Beweg-
lichkeit. Beim gewöhnlichen aufrechten Stehen fällt die vom Schwer-
punkt zum Boden gezogene Schwerlinie in den Zwischenraum zwi-
schen den beiden Füssen. Unsere Stellung ist um so fester, je weiter
wir die Füsse auseinandersetzen, weil dann um so weniger durch die
bei Neigungen des Rumpfes und Bewegungen der Arme erzeugten
Bewegungen des Schwerpunktes die Schwerlinie ausserhalb des von
den Füssen umspannten Zwischenraums fällt. Wollen wir, statt beide
Beine gleichzeitig als Stützen des Körpers zu gebrauchen, uns auf
ein einziges Bein stützen, so neigen wir den ganzen Rumpf und mit-
hin den Schwerpunkt auf die Seite des stützenden Beins, so dass die
Schwerlinie nun nicht mehr in den Zwischenraum der Füsse, sondern
auf den Fuss der stützenden Seite fällt. Allzu ausgiebige Neigungen
des Rumpfes bringen uns aber in die Gefahr das Gleichgewicht zu
verlieren, indem dann die Schwerlinie erst jenseits der Unterstützungs-
fläche des Fusses den Boden trifft. Der stehende oder gehende Mensch
befindet sich im labilen Gleichgewicht, er fällt daher, sobald sein
Schwerpunkt nicht mehr unterstützt ist. Ein Gehängter ist im stabilen
Gleichgewicht. Um das Fallen zu vermeiden, corrigiren wir bei jeder
beträchtlichen Neigung des Rumpfes die Lage unseres Schwerpunktes
durch balancirende Bewegungen der Arme oder Beine. Die letzteren
können, wenn sie ausgestreckt werden, vermöge der langen Hebel-
arme, an denen dann ihre Masse wirkt, der viel grösseren Masse des
Rumpfes das Gleichgewicht halten oder wenigstens die Bewegung
des Schwerpunktes beschränken. Bei den Bewegungen des Gehens
und Laufens dagegen verrücken wir absichtlich die Lage des
Schwerpunkts. Bei jedem Schritt neigen wir den Rumpf etwas nach
vorn und zugleich nach der Seite des vorwärtsgesetzten Beines, so
dass der Schwerpunkt über das letztere zu liegen kommt. Wenn wir
sehr schnell laufen ist diese Vorwärtsneigung des Rumpfes meistens
zu stark, so dass sie compensirende Bewegungen des Armes der ent-
gegengesetzten Seite fordert. Wenn ein Mensch eine Last trägt, so
haben beide, der Mensch und die Last, einen gemeinsamen Schwer-
punkt, und der Mensch muss nun so stehen und gehen, dass dieser
gemeinsame Schwerpunkt fortwährend unterstützt bleibt. Aus diesem
Grund neigt Jeder, der eine Last auf dem Rücken trägt, den Rumpf
nach vorn, und Jeder, der eine Last vor sich her trägt, neigt den
Rumpf nach hinten. Die letztere Haltung beobachtet man daher auch

Von der Schwere.
meinen die Lage des Schwerpunktes in dem Körper verändert. Denn
da der Schwerpunkt derjenige Punkt ist, von dem aus immer nach
je zwei entgegengesetzten Richtungen sich gleich viel Masse befindet,
so muss auch jede Veränderung in der Vertheilung der Masse verän-
dernd auf die Lage des Schwerpunktes wirken. Nun besitzt der
Mensch die Fähigkeit des Gestaltwechsels in hohem Grade, und
sein Schwerpunkt hat dem entsprechend eine ziemlich grosse Beweg-
lichkeit. Beim gewöhnlichen aufrechten Stehen fällt die vom Schwer-
punkt zum Boden gezogene Schwerlinie in den Zwischenraum zwi-
schen den beiden Füssen. Unsere Stellung ist um so fester, je weiter
wir die Füsse auseinandersetzen, weil dann um so weniger durch die
bei Neigungen des Rumpfes und Bewegungen der Arme erzeugten
Bewegungen des Schwerpunktes die Schwerlinie ausserhalb des von
den Füssen umspannten Zwischenraums fällt. Wollen wir, statt beide
Beine gleichzeitig als Stützen des Körpers zu gebrauchen, uns auf
ein einziges Bein stützen, so neigen wir den ganzen Rumpf und mit-
hin den Schwerpunkt auf die Seite des stützenden Beins, so dass die
Schwerlinie nun nicht mehr in den Zwischenraum der Füsse, sondern
auf den Fuss der stützenden Seite fällt. Allzu ausgiebige Neigungen
des Rumpfes bringen uns aber in die Gefahr das Gleichgewicht zu
verlieren, indem dann die Schwerlinie erst jenseits der Unterstützungs-
fläche des Fusses den Boden trifft. Der stehende oder gehende Mensch
befindet sich im labilen Gleichgewicht, er fällt daher, sobald sein
Schwerpunkt nicht mehr unterstützt ist. Ein Gehängter ist im stabilen
Gleichgewicht. Um das Fallen zu vermeiden, corrigiren wir bei jeder
beträchtlichen Neigung des Rumpfes die Lage unseres Schwerpunktes
durch balancirende Bewegungen der Arme oder Beine. Die letzteren
können, wenn sie ausgestreckt werden, vermöge der langen Hebel-
arme, an denen dann ihre Masse wirkt, der viel grösseren Masse des
Rumpfes das Gleichgewicht halten oder wenigstens die Bewegung
des Schwerpunktes beschränken. Bei den Bewegungen des Gehens
und Laufens dagegen verrücken wir absichtlich die Lage des
Schwerpunkts. Bei jedem Schritt neigen wir den Rumpf etwas nach
vorn und zugleich nach der Seite des vorwärtsgesetzten Beines, so
dass der Schwerpunkt über das letztere zu liegen kommt. Wenn wir
sehr schnell laufen ist diese Vorwärtsneigung des Rumpfes meistens
zu stark, so dass sie compensirende Bewegungen des Armes der ent-
gegengesetzten Seite fordert. Wenn ein Mensch eine Last trägt, so
haben beide, der Mensch und die Last, einen gemeinsamen Schwer-
punkt, und der Mensch muss nun so stehen und gehen, dass dieser
gemeinsame Schwerpunkt fortwährend unterstützt bleibt. Aus diesem
Grund neigt Jeder, der eine Last auf dem Rücken trägt, den Rumpf
nach vorn, und Jeder, der eine Last vor sich her trägt, neigt den
Rumpf nach hinten. Die letztere Haltung beobachtet man daher auch

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0094" n="72"/><fw place="top" type="header">Von der Schwere.</fw><lb/>
meinen die Lage des Schwerpunktes in dem Körper verändert. Denn<lb/>
da der Schwerpunkt derjenige Punkt ist, von dem aus immer nach<lb/>
je zwei entgegengesetzten Richtungen sich gleich viel Masse befindet,<lb/>
so muss auch jede Veränderung in der Vertheilung der Masse verän-<lb/>
dernd auf die Lage des Schwerpunktes wirken. Nun besitzt der<lb/>
Mensch die Fähigkeit des Gestaltwechsels in hohem Grade, und<lb/>
sein Schwerpunkt hat dem entsprechend eine ziemlich grosse Beweg-<lb/>
lichkeit. Beim gewöhnlichen aufrechten Stehen fällt die vom Schwer-<lb/>
punkt zum Boden gezogene Schwerlinie in den Zwischenraum zwi-<lb/>
schen den beiden Füssen. Unsere Stellung ist um so fester, je weiter<lb/>
wir die Füsse auseinandersetzen, weil dann um so weniger durch die<lb/>
bei Neigungen des Rumpfes und Bewegungen der Arme erzeugten<lb/>
Bewegungen des Schwerpunktes die Schwerlinie ausserhalb des von<lb/>
den Füssen umspannten Zwischenraums fällt. Wollen wir, statt beide<lb/>
Beine gleichzeitig als Stützen des Körpers zu gebrauchen, uns auf<lb/>
ein einziges Bein stützen, so neigen wir den ganzen Rumpf und mit-<lb/>
hin den Schwerpunkt auf die Seite des stützenden Beins, so dass die<lb/>
Schwerlinie nun nicht mehr in den Zwischenraum der Füsse, sondern<lb/>
auf den Fuss der stützenden Seite fällt. Allzu ausgiebige Neigungen<lb/>
des Rumpfes bringen uns aber in die Gefahr das Gleichgewicht zu<lb/>
verlieren, indem dann die Schwerlinie erst jenseits der Unterstützungs-<lb/>
fläche des Fusses den Boden trifft. Der stehende oder gehende Mensch<lb/>
befindet sich im labilen Gleichgewicht, er fällt daher, sobald sein<lb/>
Schwerpunkt nicht mehr unterstützt ist. Ein Gehängter ist im stabilen<lb/>
Gleichgewicht. Um das Fallen zu vermeiden, corrigiren wir bei jeder<lb/>
beträchtlichen Neigung des Rumpfes die Lage unseres Schwerpunktes<lb/>
durch balancirende Bewegungen der Arme oder Beine. Die letzteren<lb/>
können, wenn sie ausgestreckt werden, vermöge der langen Hebel-<lb/>
arme, an denen dann ihre Masse wirkt, der viel grösseren Masse des<lb/>
Rumpfes das Gleichgewicht halten oder wenigstens die Bewegung<lb/>
des Schwerpunktes beschränken. Bei den Bewegungen des Gehens<lb/>
und Laufens dagegen verrücken wir absichtlich die Lage des<lb/>
Schwerpunkts. Bei jedem Schritt neigen wir den Rumpf etwas nach<lb/>
vorn und zugleich nach der Seite des vorwärtsgesetzten Beines, so<lb/>
dass der Schwerpunkt über das letztere zu liegen kommt. Wenn wir<lb/>
sehr schnell laufen ist diese Vorwärtsneigung des Rumpfes meistens<lb/>
zu stark, so dass sie compensirende Bewegungen des Armes der ent-<lb/>
gegengesetzten Seite fordert. Wenn ein Mensch eine Last trägt, so<lb/>
haben beide, der Mensch und die Last, einen gemeinsamen Schwer-<lb/>
punkt, und der Mensch muss nun so stehen und gehen, dass dieser<lb/>
gemeinsame Schwerpunkt fortwährend unterstützt bleibt. Aus diesem<lb/>
Grund neigt Jeder, der eine Last auf dem Rücken trägt, den Rumpf<lb/>
nach vorn, und Jeder, der eine Last vor sich her trägt, neigt den<lb/>
Rumpf nach hinten. Die letztere Haltung beobachtet man daher auch<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[72/0094] Von der Schwere. meinen die Lage des Schwerpunktes in dem Körper verändert. Denn da der Schwerpunkt derjenige Punkt ist, von dem aus immer nach je zwei entgegengesetzten Richtungen sich gleich viel Masse befindet, so muss auch jede Veränderung in der Vertheilung der Masse verän- dernd auf die Lage des Schwerpunktes wirken. Nun besitzt der Mensch die Fähigkeit des Gestaltwechsels in hohem Grade, und sein Schwerpunkt hat dem entsprechend eine ziemlich grosse Beweg- lichkeit. Beim gewöhnlichen aufrechten Stehen fällt die vom Schwer- punkt zum Boden gezogene Schwerlinie in den Zwischenraum zwi- schen den beiden Füssen. Unsere Stellung ist um so fester, je weiter wir die Füsse auseinandersetzen, weil dann um so weniger durch die bei Neigungen des Rumpfes und Bewegungen der Arme erzeugten Bewegungen des Schwerpunktes die Schwerlinie ausserhalb des von den Füssen umspannten Zwischenraums fällt. Wollen wir, statt beide Beine gleichzeitig als Stützen des Körpers zu gebrauchen, uns auf ein einziges Bein stützen, so neigen wir den ganzen Rumpf und mit- hin den Schwerpunkt auf die Seite des stützenden Beins, so dass die Schwerlinie nun nicht mehr in den Zwischenraum der Füsse, sondern auf den Fuss der stützenden Seite fällt. Allzu ausgiebige Neigungen des Rumpfes bringen uns aber in die Gefahr das Gleichgewicht zu verlieren, indem dann die Schwerlinie erst jenseits der Unterstützungs- fläche des Fusses den Boden trifft. Der stehende oder gehende Mensch befindet sich im labilen Gleichgewicht, er fällt daher, sobald sein Schwerpunkt nicht mehr unterstützt ist. Ein Gehängter ist im stabilen Gleichgewicht. Um das Fallen zu vermeiden, corrigiren wir bei jeder beträchtlichen Neigung des Rumpfes die Lage unseres Schwerpunktes durch balancirende Bewegungen der Arme oder Beine. Die letzteren können, wenn sie ausgestreckt werden, vermöge der langen Hebel- arme, an denen dann ihre Masse wirkt, der viel grösseren Masse des Rumpfes das Gleichgewicht halten oder wenigstens die Bewegung des Schwerpunktes beschränken. Bei den Bewegungen des Gehens und Laufens dagegen verrücken wir absichtlich die Lage des Schwerpunkts. Bei jedem Schritt neigen wir den Rumpf etwas nach vorn und zugleich nach der Seite des vorwärtsgesetzten Beines, so dass der Schwerpunkt über das letztere zu liegen kommt. Wenn wir sehr schnell laufen ist diese Vorwärtsneigung des Rumpfes meistens zu stark, so dass sie compensirende Bewegungen des Armes der ent- gegengesetzten Seite fordert. Wenn ein Mensch eine Last trägt, so haben beide, der Mensch und die Last, einen gemeinsamen Schwer- punkt, und der Mensch muss nun so stehen und gehen, dass dieser gemeinsame Schwerpunkt fortwährend unterstützt bleibt. Aus diesem Grund neigt Jeder, der eine Last auf dem Rücken trägt, den Rumpf nach vorn, und Jeder, der eine Last vor sich her trägt, neigt den Rumpf nach hinten. Die letztere Haltung beobachtet man daher auch

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_medizinische_1867
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_medizinische_1867/94
Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Handbuch der medicinischen Physik. Erlangen, 1867, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_medizinische_1867/94>, abgerufen am 19.04.2024.