Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wundt, Wilhelm: Handbuch der medicinischen Physik. Erlangen, 1867.

Bild:
<< vorherige Seite
Von den Naturerscheinungen und Naturgesetzen im Allgemeinen.

30
Longitudinal-
schwingungen.
Verdichtungs-
und Verdün-
nungswellen.

In der Natnr sind uns niemals isolirte Punkte, sondern stets Kör-
per gegeben, die aus einer unendlichen Anzahl von Atomen und Mo-
lecülen gebildet sind. Betrachten wir daher jedes Atom oder Molecül
für sich als einen materiellen Punkt, so können wir einen Körper als
ein Aggregat sehr vieler Punkte ansehen. Nun haben wir bei der Er-
örterung des atomistischen Aufbaus der Körper gefunden, dass die
Theilchen, welche dieselben zusammensetzten, Kräfte auf einander aus-
üben, die von der gegenseitigen Distanz dieser Theilchen abhängen,
und die also, wenn irgend ein Punkt eines Körpers in Schwingung
geräth, auch den Gleichgewichtszustand der benachbarten Punkte stö-
ren müssen. Die an sich, so lang wir uns auf die Betrachtung eines
einzigen Punktes beschränken, sehr einfachen Schwingungsbewegungen
werden daher complicirter, sobald sie, wie dies in der Natur häufig
der Fall ist, successiv auf viele Punkte sich übertragen.

Nehmen wir an, es seien uns drei Punkte a b c (Fig. 9 A) in
gleich weitem Abstand von einander gegeben, zwischen denen sich
die Anziehungs- und Abstossungskräfte das Gleichgewicht halten. Wir

[Abbildung] Fig. 9.
setzen voraus, diese An-
ziehungs- und Abstos-
sungskräfte ständen in
jenem Verhältnisse zu
einander, das wir dem
atomistischen Aufbau der
Körper überhaupt zu
Grund gelegt haben, und
nach welchem mit der
Vergrösserung der Ent-
fernung die abstossen-
den Kräfte rascher abneh-
men als die anziehenden.
Wenn daher durch eine
äussere Gewalt die Distanz zwischen zwei Punkten verringert wird,
so müssen beide sich abstossen, wenn hingegen die Distanz vergrös-
sert wird, so müssen beide sich anziehen. Setzen wir also voraus, der
Punkt a werde plötzlich durch einen einmaligen Stoss gegen den
Punkt b hingetrieben, so wird er sich mit abnehmender Geschwindig-
keit dem Punkte b nähern (Fig. 9 B) und dann sich wieder mit
beschleunigter Geschwindigkeit gegen seine frühere Lage zurückbe-
wegen. Durch die Annäherung von a hat aber auch b eine abstos-
sende Wirkung empfangen und muss sich daher gegen c hin in Be-
wegung setzen (C). Die Bewegung von b muss nun ebenso wie vor-
hin die von a abnehmen, null werden und dann in eine rückwärts
gehende beschleunigte Bewegung sich umkehren. Sowohl a als b
gehen wegen der auf ihrem Rückweg empfangenen Beschleunigung

Von den Naturerscheinungen und Naturgesetzen im Allgemeinen.

30
Longitudinal-
schwingungen.
Verdichtungs-
und Verdün-
nungswellen.

In der Natnr sind uns niemals isolirte Punkte, sondern stets Kör-
per gegeben, die aus einer unendlichen Anzahl von Atomen und Mo-
lecülen gebildet sind. Betrachten wir daher jedes Atom oder Molecül
für sich als einen materiellen Punkt, so können wir einen Körper als
ein Aggregat sehr vieler Punkte ansehen. Nun haben wir bei der Er-
örterung des atomistischen Aufbaus der Körper gefunden, dass die
Theilchen, welche dieselben zusammensetzten, Kräfte auf einander aus-
üben, die von der gegenseitigen Distanz dieser Theilchen abhängen,
und die also, wenn irgend ein Punkt eines Körpers in Schwingung
geräth, auch den Gleichgewichtszustand der benachbarten Punkte stö-
ren müssen. Die an sich, so lang wir uns auf die Betrachtung eines
einzigen Punktes beschränken, sehr einfachen Schwingungsbewegungen
werden daher complicirter, sobald sie, wie dies in der Natur häufig
der Fall ist, successiv auf viele Punkte sich übertragen.

Nehmen wir an, es seien uns drei Punkte a b c (Fig. 9 A) in
gleich weitem Abstand von einander gegeben, zwischen denen sich
die Anziehungs- und Abstossungskräfte das Gleichgewicht halten. Wir

[Abbildung] Fig. 9.
setzen voraus, diese An-
ziehungs- und Abstos-
sungskräfte ständen in
jenem Verhältnisse zu
einander, das wir dem
atomistischen Aufbau der
Körper überhaupt zu
Grund gelegt haben, und
nach welchem mit der
Vergrösserung der Ent-
fernung die abstossen-
den Kräfte rascher abneh-
men als die anziehenden.
Wenn daher durch eine
äussere Gewalt die Distanz zwischen zwei Punkten verringert wird,
so müssen beide sich abstossen, wenn hingegen die Distanz vergrös-
sert wird, so müssen beide sich anziehen. Setzen wir also voraus, der
Punkt a werde plötzlich durch einen einmaligen Stoss gegen den
Punkt b hingetrieben, so wird er sich mit abnehmender Geschwindig-
keit dem Punkte b nähern (Fig. 9 B) und dann sich wieder mit
beschleunigter Geschwindigkeit gegen seine frühere Lage zurückbe-
wegen. Durch die Annäherung von a hat aber auch b eine abstos-
sende Wirkung empfangen und muss sich daher gegen c hin in Be-
wegung setzen (C). Die Bewegung von b muss nun ebenso wie vor-
hin die von a abnehmen, null werden und dann in eine rückwärts
gehende beschleunigte Bewegung sich umkehren. Sowohl a als b
gehen wegen der auf ihrem Rückweg empfangenen Beschleunigung

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0060" n="38"/>
          <fw place="top" type="header">Von den Naturerscheinungen und Naturgesetzen im Allgemeinen.</fw><lb/>
          <note place="left">30<lb/>
Longitudinal-<lb/>
schwingungen.<lb/>
Verdichtungs-<lb/>
und Verdün-<lb/>
nungswellen.</note>
          <p>In der Natnr sind uns niemals isolirte Punkte, sondern stets Kör-<lb/>
per gegeben, die aus einer unendlichen Anzahl von Atomen und Mo-<lb/>
lecülen gebildet sind. Betrachten wir daher jedes Atom oder Molecül<lb/>
für sich als einen materiellen Punkt, so können wir einen Körper als<lb/>
ein Aggregat sehr vieler Punkte ansehen. Nun haben wir bei der Er-<lb/>
örterung des atomistischen Aufbaus der Körper gefunden, dass die<lb/>
Theilchen, welche dieselben zusammensetzten, Kräfte auf einander aus-<lb/>
üben, die von der gegenseitigen Distanz dieser Theilchen abhängen,<lb/>
und die also, wenn irgend ein Punkt eines Körpers in Schwingung<lb/>
geräth, auch den Gleichgewichtszustand der benachbarten Punkte stö-<lb/>
ren müssen. Die an sich, so lang wir uns auf die Betrachtung eines<lb/>
einzigen Punktes beschränken, sehr einfachen Schwingungsbewegungen<lb/>
werden daher complicirter, sobald sie, wie dies in der Natur häufig<lb/>
der Fall ist, successiv auf viele Punkte sich übertragen.</p><lb/>
          <p>Nehmen wir an, es seien uns drei Punkte a b c (Fig. 9 A) in<lb/>
gleich weitem Abstand von einander gegeben, zwischen denen sich<lb/>
die Anziehungs- und Abstossungskräfte das Gleichgewicht halten. Wir<lb/><figure><head>Fig. 9.</head></figure><lb/>
setzen voraus, diese An-<lb/>
ziehungs- und Abstos-<lb/>
sungskräfte ständen in<lb/>
jenem Verhältnisse zu<lb/>
einander, das wir dem<lb/>
atomistischen Aufbau der<lb/>
Körper überhaupt zu<lb/>
Grund gelegt haben, und<lb/>
nach welchem mit der<lb/>
Vergrösserung der Ent-<lb/>
fernung die abstossen-<lb/>
den Kräfte rascher abneh-<lb/>
men als die anziehenden.<lb/>
Wenn daher durch eine<lb/>
äussere Gewalt die Distanz zwischen zwei Punkten verringert wird,<lb/>
so müssen beide sich abstossen, wenn hingegen die Distanz vergrös-<lb/>
sert wird, so müssen beide sich anziehen. Setzen wir also voraus, der<lb/>
Punkt a werde plötzlich durch einen einmaligen Stoss gegen den<lb/>
Punkt b hingetrieben, so wird er sich mit abnehmender Geschwindig-<lb/>
keit dem Punkte b nähern (Fig. 9 B) und dann sich wieder mit<lb/>
beschleunigter Geschwindigkeit gegen seine frühere Lage zurückbe-<lb/>
wegen. Durch die Annäherung von a hat aber auch b eine abstos-<lb/>
sende Wirkung empfangen und muss sich daher gegen c hin in Be-<lb/>
wegung setzen (C). Die Bewegung von b muss nun ebenso wie vor-<lb/>
hin die von a abnehmen, null werden und dann in eine rückwärts<lb/>
gehende beschleunigte Bewegung sich umkehren. Sowohl a als b<lb/>
gehen wegen der auf ihrem Rückweg empfangenen Beschleunigung<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[38/0060] Von den Naturerscheinungen und Naturgesetzen im Allgemeinen. In der Natnr sind uns niemals isolirte Punkte, sondern stets Kör- per gegeben, die aus einer unendlichen Anzahl von Atomen und Mo- lecülen gebildet sind. Betrachten wir daher jedes Atom oder Molecül für sich als einen materiellen Punkt, so können wir einen Körper als ein Aggregat sehr vieler Punkte ansehen. Nun haben wir bei der Er- örterung des atomistischen Aufbaus der Körper gefunden, dass die Theilchen, welche dieselben zusammensetzten, Kräfte auf einander aus- üben, die von der gegenseitigen Distanz dieser Theilchen abhängen, und die also, wenn irgend ein Punkt eines Körpers in Schwingung geräth, auch den Gleichgewichtszustand der benachbarten Punkte stö- ren müssen. Die an sich, so lang wir uns auf die Betrachtung eines einzigen Punktes beschränken, sehr einfachen Schwingungsbewegungen werden daher complicirter, sobald sie, wie dies in der Natur häufig der Fall ist, successiv auf viele Punkte sich übertragen. Nehmen wir an, es seien uns drei Punkte a b c (Fig. 9 A) in gleich weitem Abstand von einander gegeben, zwischen denen sich die Anziehungs- und Abstossungskräfte das Gleichgewicht halten. Wir [Abbildung Fig. 9.] setzen voraus, diese An- ziehungs- und Abstos- sungskräfte ständen in jenem Verhältnisse zu einander, das wir dem atomistischen Aufbau der Körper überhaupt zu Grund gelegt haben, und nach welchem mit der Vergrösserung der Ent- fernung die abstossen- den Kräfte rascher abneh- men als die anziehenden. Wenn daher durch eine äussere Gewalt die Distanz zwischen zwei Punkten verringert wird, so müssen beide sich abstossen, wenn hingegen die Distanz vergrös- sert wird, so müssen beide sich anziehen. Setzen wir also voraus, der Punkt a werde plötzlich durch einen einmaligen Stoss gegen den Punkt b hingetrieben, so wird er sich mit abnehmender Geschwindig- keit dem Punkte b nähern (Fig. 9 B) und dann sich wieder mit beschleunigter Geschwindigkeit gegen seine frühere Lage zurückbe- wegen. Durch die Annäherung von a hat aber auch b eine abstos- sende Wirkung empfangen und muss sich daher gegen c hin in Be- wegung setzen (C). Die Bewegung von b muss nun ebenso wie vor- hin die von a abnehmen, null werden und dann in eine rückwärts gehende beschleunigte Bewegung sich umkehren. Sowohl a als b gehen wegen der auf ihrem Rückweg empfangenen Beschleunigung

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_medizinische_1867
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_medizinische_1867/60
Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Handbuch der medicinischen Physik. Erlangen, 1867, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_medizinische_1867/60>, abgerufen am 28.03.2024.