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Wundt, Wilhelm: Handbuch der medicinischen Physik. Erlangen, 1867.

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Von der Schwere.
keiten kam die gegenseitige Wirkung der Flüssigkeitstheilchen auf
einander gar nicht in Rücksicht. Im Innern einer Flüssigkeit wirken
auf jedes Theilchen von allen Seiten Anziehungskräfte der Nachbar-
theilchen. Da aber diese Anziehungskräfte sämmtlich von gleicher
Grösse sind, so verhalten sich die im Innern einer Flüssigkeit befind-
lichen Theilchen gerade so, als wenn sie gar keine Wirkungen auf
einander ausübten. Dies ist anders mit denjenigen Theilchen, die sich
auf der Oberfläche der Flüssigkeit befinden. Diese sind mit ihrer
Oberflächenseite keinerlei gegenseitigen Anziehungen ausgesetzt, wäh-
rend auf die dem Innern der Flüssigkeit zugekehrte Seite die An-
ziehungen der darunter befindlichen Flüssigkeitsschichte wirken.
Die ganze freie Oberfläche einer Flüssigkeit erfährt also einen
gegen das Innere gerichteten Zug, den man als Oberflächen-
spannung
bezeichnet. Ein bekanntes Phänomen, das auf die-
ser Oberflächenspannung beruht, ist die Ansammlung von Luftblasen
unmittelbar unter der Oberflächenschichte von Flüssigkeiten. Die Luft,
die zu entweichen strebt, wird hier durch den in entgegengesetzter
Richtung wirkenden Druck der Oberflächenspannung zurückgehalten.


73
Adhäsion von
Flüssigkeiten
an festen Kör-
pern. Capilla-
rität.

Eine fernere Modification erfährt die Wirkung der Schwere auf
Flüssigkeiten in Folge der Erscheinungen, welche bei der Berührung
von Flüssigkeiten mit festen Körpern oder verschiedener Flüssigkeiten
mit einander eintreten.

Alle festen Körper ohne Ausnahme üben auf Flüssigkeiten eine
Anziehung aus, deren Grösse gleichzeitig von der Natur der Flüssig-
keit und des mit ihr in Wechselwirkung tretenden festen Körpers be-
dingt ist. Es zeigen sich in dieser Beziehung namentlich zwei Haupt-
unterschiede. Die Anziehungskraft des festen Körpers auf die Flüssig-
keit ist nämlich entweder grösser oder kleiner als die Anziehungs-
kraft der Flüssigkeitstheilchen unter einander; im ersten Fall wird
der feste Körper benetzt, im zweiten Fall wird er nicht benetzt
von der Flüssigkeit. So ist z. B. die Anziehung, welche Holz oder
Glas auf Wasser ausübt, grösser als die gegenseitige Anziehung der
Wassertheilchen. Wenn man einen Glasstab in Wasser taucht und
dann daraus emporhebt, so bleiben Wassertropfen an demselben haf-
ten: die anziehende Wirkung des Glases überwiegt also in diesem
Fall nicht bloss die gegenseitige Anziehung der Wassertheilchen, son-
dern auch die Wirkung der Schwere auf die adhärirenden Tropfen.
Quecksilber bleibt an Holz oder Glas nicht haften, adhärirt dagegen
an einem Kupfer- oder Goldstab.

Das verschiedene Verhältniss der Cohäsion der Flüssigkeitstheil-
chen zu der Adhäsion derselben an festen Körpern bedingt bemerkens-
werthe Abweichungen von dem Gesetz des horizontalen Niveaus der
Flüssigkeiten. Eine in einem Gefäss befindliche Flüssigkeit wird an

Von der Schwere.
keiten kam die gegenseitige Wirkung der Flüssigkeitstheilchen auf
einander gar nicht in Rücksicht. Im Innern einer Flüssigkeit wirken
auf jedes Theilchen von allen Seiten Anziehungskräfte der Nachbar-
theilchen. Da aber diese Anziehungskräfte sämmtlich von gleicher
Grösse sind, so verhalten sich die im Innern einer Flüssigkeit befind-
lichen Theilchen gerade so, als wenn sie gar keine Wirkungen auf
einander ausübten. Dies ist anders mit denjenigen Theilchen, die sich
auf der Oberfläche der Flüssigkeit befinden. Diese sind mit ihrer
Oberflächenseite keinerlei gegenseitigen Anziehungen ausgesetzt, wäh-
rend auf die dem Innern der Flüssigkeit zugekehrte Seite die An-
ziehungen der darunter befindlichen Flüssigkeitsschichte wirken.
Die ganze freie Oberfläche einer Flüssigkeit erfährt also einen
gegen das Innere gerichteten Zug, den man als Oberflächen-
spannung
bezeichnet. Ein bekanntes Phänomen, das auf die-
ser Oberflächenspannung beruht, ist die Ansammlung von Luftblasen
unmittelbar unter der Oberflächenschichte von Flüssigkeiten. Die Luft,
die zu entweichen strebt, wird hier durch den in entgegengesetzter
Richtung wirkenden Druck der Oberflächenspannung zurückgehalten.


73
Adhäsion von
Flüssigkeiten
an festen Kör-
pern. Capilla-
rität.

Eine fernere Modification erfährt die Wirkung der Schwere auf
Flüssigkeiten in Folge der Erscheinungen, welche bei der Berührung
von Flüssigkeiten mit festen Körpern oder verschiedener Flüssigkeiten
mit einander eintreten.

Alle festen Körper ohne Ausnahme üben auf Flüssigkeiten eine
Anziehung aus, deren Grösse gleichzeitig von der Natur der Flüssig-
keit und des mit ihr in Wechselwirkung tretenden festen Körpers be-
dingt ist. Es zeigen sich in dieser Beziehung namentlich zwei Haupt-
unterschiede. Die Anziehungskraft des festen Körpers auf die Flüssig-
keit ist nämlich entweder grösser oder kleiner als die Anziehungs-
kraft der Flüssigkeitstheilchen unter einander; im ersten Fall wird
der feste Körper benetzt, im zweiten Fall wird er nicht benetzt
von der Flüssigkeit. So ist z. B. die Anziehung, welche Holz oder
Glas auf Wasser ausübt, grösser als die gegenseitige Anziehung der
Wassertheilchen. Wenn man einen Glasstab in Wasser taucht und
dann daraus emporhebt, so bleiben Wassertropfen an demselben haf-
ten: die anziehende Wirkung des Glases überwiegt also in diesem
Fall nicht bloss die gegenseitige Anziehung der Wassertheilchen, son-
dern auch die Wirkung der Schwere auf die adhärirenden Tropfen.
Quecksilber bleibt an Holz oder Glas nicht haften, adhärirt dagegen
an einem Kupfer- oder Goldstab.

Das verschiedene Verhältniss der Cohäsion der Flüssigkeitstheil-
chen zu der Adhäsion derselben an festen Körpern bedingt bemerkens-
werthe Abweichungen von dem Gesetz des horizontalen Niveaus der
Flüssigkeiten. Eine in einem Gefäss befindliche Flüssigkeit wird an

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[102/0124] Von der Schwere. keiten kam die gegenseitige Wirkung der Flüssigkeitstheilchen auf einander gar nicht in Rücksicht. Im Innern einer Flüssigkeit wirken auf jedes Theilchen von allen Seiten Anziehungskräfte der Nachbar- theilchen. Da aber diese Anziehungskräfte sämmtlich von gleicher Grösse sind, so verhalten sich die im Innern einer Flüssigkeit befind- lichen Theilchen gerade so, als wenn sie gar keine Wirkungen auf einander ausübten. Dies ist anders mit denjenigen Theilchen, die sich auf der Oberfläche der Flüssigkeit befinden. Diese sind mit ihrer Oberflächenseite keinerlei gegenseitigen Anziehungen ausgesetzt, wäh- rend auf die dem Innern der Flüssigkeit zugekehrte Seite die An- ziehungen der darunter befindlichen Flüssigkeitsschichte wirken. Die ganze freie Oberfläche einer Flüssigkeit erfährt also einen gegen das Innere gerichteten Zug, den man als Oberflächen- spannung bezeichnet. Ein bekanntes Phänomen, das auf die- ser Oberflächenspannung beruht, ist die Ansammlung von Luftblasen unmittelbar unter der Oberflächenschichte von Flüssigkeiten. Die Luft, die zu entweichen strebt, wird hier durch den in entgegengesetzter Richtung wirkenden Druck der Oberflächenspannung zurückgehalten. Eine fernere Modification erfährt die Wirkung der Schwere auf Flüssigkeiten in Folge der Erscheinungen, welche bei der Berührung von Flüssigkeiten mit festen Körpern oder verschiedener Flüssigkeiten mit einander eintreten. Alle festen Körper ohne Ausnahme üben auf Flüssigkeiten eine Anziehung aus, deren Grösse gleichzeitig von der Natur der Flüssig- keit und des mit ihr in Wechselwirkung tretenden festen Körpers be- dingt ist. Es zeigen sich in dieser Beziehung namentlich zwei Haupt- unterschiede. Die Anziehungskraft des festen Körpers auf die Flüssig- keit ist nämlich entweder grösser oder kleiner als die Anziehungs- kraft der Flüssigkeitstheilchen unter einander; im ersten Fall wird der feste Körper benetzt, im zweiten Fall wird er nicht benetzt von der Flüssigkeit. So ist z. B. die Anziehung, welche Holz oder Glas auf Wasser ausübt, grösser als die gegenseitige Anziehung der Wassertheilchen. Wenn man einen Glasstab in Wasser taucht und dann daraus emporhebt, so bleiben Wassertropfen an demselben haf- ten: die anziehende Wirkung des Glases überwiegt also in diesem Fall nicht bloss die gegenseitige Anziehung der Wassertheilchen, son- dern auch die Wirkung der Schwere auf die adhärirenden Tropfen. Quecksilber bleibt an Holz oder Glas nicht haften, adhärirt dagegen an einem Kupfer- oder Goldstab. Das verschiedene Verhältniss der Cohäsion der Flüssigkeitstheil- chen zu der Adhäsion derselben an festen Körpern bedingt bemerkens- werthe Abweichungen von dem Gesetz des horizontalen Niveaus der Flüssigkeiten. Eine in einem Gefäss befindliche Flüssigkeit wird an

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Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Handbuch der medicinischen Physik. Erlangen, 1867, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_medizinische_1867/124>, abgerufen am 19.04.2024.