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Wundt, Wilhelm: Handbuch der medicinischen Physik. Erlangen, 1867.

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der Beine ihre Anwendung finden. Während das eine Bein sich ab-
wickelt, schwingt das andere, im Kniegelenk etwas gebeugt, nach
vorn. Nun ist jeder um eine Drehungsaxe schwingende Körper als
ein physisches Pendel anzusehen, dessen Schwingungsdauer von
seiner Länge und Massenvertheilung abhängig ist. Wir beobachten
daher beim gewöhnlichen Gehen einen Isochronismus der Schritte, der
in dem Isochronismus der Pendelschwingungen seinen Grund hat und
das gleichmässig sich wiederholende Abwickeln des stemmenden
Fusses vom Boden bedingt. Die Schwingungsdauer des einen Beins
ist beim normalen Gehen gleich der Abwickelungsdauer des andern
Beins. Im Moment, in welchem die letztere beendet ist, fällt das
erstere auf den Boden und beginnt sogleich seinerseits sich abzu-
wickeln, während gleichzeitig das andere seine Schwingung beginnt.
Die Abwickelung kann mit ziemlich verschiedener Geschwindigkeit
vor sich gehen; sie geschieht um so rascher, je schneller wir gehen
wollen. Da hingegen die Schwingungsdauer bei gegebener Länge
der pendelnden Beine sich nicht verändern kann, so kann das schwin-
gende Bein nicht immer einen vollständigen Schwingungsbogen wäh-
rend der Abwickelung zurücklegen; es wird also dann, weil Ab-
wickelung und Schwingung gleich lang dauern, der Schwingungsbogen
unterbrochen. Beim langsamen Gehen dauert die Abwickelung ent-
weder genau so lange, dass ein voller Schwingungsbogen zurückge-
legt werden kann, oder sogar noch etwas länger, so dass beide Beine
eine merkliche Zeit gleichzeitig auf dem Boden aufruhen, und in die-
sem Fall halbirt dann das von der Drehungsaxe der Schenkelköpfe
auf den Boden gefällte Loth den Winkel, den die beiden Beine,
während sie auf dem Boden aufstehen, mit einander bilden. Bei
schnellerem Gehen wird der Schwingungsbogen in seiner zweiten
Hälfte unterbrochen, es ist also nun der nach vorn vom Loth liegende
Winkel kleiner als der hintere. Beim schnellsten Gehen endlich wird
der Schwingungsbogen ziemlich genau in seiner Hälfte unterbrochen,
das Loth trifft dann mit dem Fusspunkt des vordern Beins zusammen.
Mehr als um den halben Schwingungsbogen kann das Pendeln der
Beine nicht verkürzt werden, weil beim Aufsetzen des Fusses die
Drehungsaxe unterstützt sein muss. Beim Laufen, wo die Abwickelungs-
zeit noch kürzer als die Dauer eines halben Schwingungsbogens ist,
sind daher während einer kurzen Zeit beide Beine gleichzeitig vom
Boden entfernt.

Ein weiteres Hülfsmittel, welches stets beim schnellen Gehen und
Laufen zur Anwendung kommt, besteht in der Senkung des Rumpfes.
Je niedriger die Drehungsaxe der Schenkelköpfe über dem Boden
getragen wird, um so kürzer werden die pendelnden Beine, und um
so schneller gemäss dem Pendelgesetz ihre Schwingungen. Dieses
Hülfsmittel wirkt der sonst durch die Verkürzung der Abwickelungs-

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der Beine ihre Anwendung finden. Während das eine Bein sich ab-
wickelt, schwingt das andere, im Kniegelenk etwas gebeugt, nach
vorn. Nun ist jeder um eine Drehungsaxe schwingende Körper als
ein physisches Pendel anzusehen, dessen Schwingungsdauer von
seiner Länge und Massenvertheilung abhängig ist. Wir beobachten
daher beim gewöhnlichen Gehen einen Isochronismus der Schritte, der
in dem Isochronismus der Pendelschwingungen seinen Grund hat und
das gleichmässig sich wiederholende Abwickeln des stemmenden
Fusses vom Boden bedingt. Die Schwingungsdauer des einen Beins
ist beim normalen Gehen gleich der Abwickelungsdauer des andern
Beins. Im Moment, in welchem die letztere beendet ist, fällt das
erstere auf den Boden und beginnt sogleich seinerseits sich abzu-
wickeln, während gleichzeitig das andere seine Schwingung beginnt.
Die Abwickelung kann mit ziemlich verschiedener Geschwindigkeit
vor sich gehen; sie geschieht um so rascher, je schneller wir gehen
wollen. Da hingegen die Schwingungsdauer bei gegebener Länge
der pendelnden Beine sich nicht verändern kann, so kann das schwin-
gende Bein nicht immer einen vollständigen Schwingungsbogen wäh-
rend der Abwickelung zurücklegen; es wird also dann, weil Ab-
wickelung und Schwingung gleich lang dauern, der Schwingungsbogen
unterbrochen. Beim langsamen Gehen dauert die Abwickelung ent-
weder genau so lange, dass ein voller Schwingungsbogen zurückge-
legt werden kann, oder sogar noch etwas länger, so dass beide Beine
eine merkliche Zeit gleichzeitig auf dem Boden aufruhen, und in die-
sem Fall halbirt dann das von der Drehungsaxe der Schenkelköpfe
auf den Boden gefällte Loth den Winkel, den die beiden Beine,
während sie auf dem Boden aufstehen, mit einander bilden. Bei
schnellerem Gehen wird der Schwingungsbogen in seiner zweiten
Hälfte unterbrochen, es ist also nun der nach vorn vom Loth liegende
Winkel kleiner als der hintere. Beim schnellsten Gehen endlich wird
der Schwingungsbogen ziemlich genau in seiner Hälfte unterbrochen,
das Loth trifft dann mit dem Fusspunkt des vordern Beins zusammen.
Mehr als um den halben Schwingungsbogen kann das Pendeln der
Beine nicht verkürzt werden, weil beim Aufsetzen des Fusses die
Drehungsaxe unterstützt sein muss. Beim Laufen, wo die Abwickelungs-
zeit noch kürzer als die Dauer eines halben Schwingungsbogens ist,
sind daher während einer kurzen Zeit beide Beine gleichzeitig vom
Boden entfernt.

Ein weiteres Hülfsmittel, welches stets beim schnellen Gehen und
Laufen zur Anwendung kommt, besteht in der Senkung des Rumpfes.
Je niedriger die Drehungsaxe der Schenkelköpfe über dem Boden
getragen wird, um so kürzer werden die pendelnden Beine, und um
so schneller gemäss dem Pendelgesetz ihre Schwingungen. Dieses
Hülfsmittel wirkt der sonst durch die Verkürzung der Abwickelungs-

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[88/0110] Von der Schwere. der Beine ihre Anwendung finden. Während das eine Bein sich ab- wickelt, schwingt das andere, im Kniegelenk etwas gebeugt, nach vorn. Nun ist jeder um eine Drehungsaxe schwingende Körper als ein physisches Pendel anzusehen, dessen Schwingungsdauer von seiner Länge und Massenvertheilung abhängig ist. Wir beobachten daher beim gewöhnlichen Gehen einen Isochronismus der Schritte, der in dem Isochronismus der Pendelschwingungen seinen Grund hat und das gleichmässig sich wiederholende Abwickeln des stemmenden Fusses vom Boden bedingt. Die Schwingungsdauer des einen Beins ist beim normalen Gehen gleich der Abwickelungsdauer des andern Beins. Im Moment, in welchem die letztere beendet ist, fällt das erstere auf den Boden und beginnt sogleich seinerseits sich abzu- wickeln, während gleichzeitig das andere seine Schwingung beginnt. Die Abwickelung kann mit ziemlich verschiedener Geschwindigkeit vor sich gehen; sie geschieht um so rascher, je schneller wir gehen wollen. Da hingegen die Schwingungsdauer bei gegebener Länge der pendelnden Beine sich nicht verändern kann, so kann das schwin- gende Bein nicht immer einen vollständigen Schwingungsbogen wäh- rend der Abwickelung zurücklegen; es wird also dann, weil Ab- wickelung und Schwingung gleich lang dauern, der Schwingungsbogen unterbrochen. Beim langsamen Gehen dauert die Abwickelung ent- weder genau so lange, dass ein voller Schwingungsbogen zurückge- legt werden kann, oder sogar noch etwas länger, so dass beide Beine eine merkliche Zeit gleichzeitig auf dem Boden aufruhen, und in die- sem Fall halbirt dann das von der Drehungsaxe der Schenkelköpfe auf den Boden gefällte Loth den Winkel, den die beiden Beine, während sie auf dem Boden aufstehen, mit einander bilden. Bei schnellerem Gehen wird der Schwingungsbogen in seiner zweiten Hälfte unterbrochen, es ist also nun der nach vorn vom Loth liegende Winkel kleiner als der hintere. Beim schnellsten Gehen endlich wird der Schwingungsbogen ziemlich genau in seiner Hälfte unterbrochen, das Loth trifft dann mit dem Fusspunkt des vordern Beins zusammen. Mehr als um den halben Schwingungsbogen kann das Pendeln der Beine nicht verkürzt werden, weil beim Aufsetzen des Fusses die Drehungsaxe unterstützt sein muss. Beim Laufen, wo die Abwickelungs- zeit noch kürzer als die Dauer eines halben Schwingungsbogens ist, sind daher während einer kurzen Zeit beide Beine gleichzeitig vom Boden entfernt. Ein weiteres Hülfsmittel, welches stets beim schnellen Gehen und Laufen zur Anwendung kommt, besteht in der Senkung des Rumpfes. Je niedriger die Drehungsaxe der Schenkelköpfe über dem Boden getragen wird, um so kürzer werden die pendelnden Beine, und um so schneller gemäss dem Pendelgesetz ihre Schwingungen. Dieses Hülfsmittel wirkt der sonst durch die Verkürzung der Abwickelungs-

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Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Handbuch der medicinischen Physik. Erlangen, 1867, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_medizinische_1867/110>, abgerufen am 20.04.2024.