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F. v. W. [Margarethe von Wolff]: Gemüth und Selbstsucht. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 16. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–86. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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sich sagen muß: Alles war dein in der Heimath, das liebste Auge suchte dich, das treueste Herz schlug für dich, aber das Alles konnte dir nicht genügen, und freiwillig gabst du es auf! -- Kann die Reue dich versöhnen, die solche Betrachtung hervorrufen muß? Ich sehe dich in Gedanken, deine Augen auf mich gerichtet, welche so oft bei solchen Fragen nachdenklich, wehmüthig auf mir ruhten. Wehmüthig blicke auch ich in Gedanken zu dir auf, ich verstehe deinen Schmerz, verstehe du nun auch mein Sehnen und meine Reue! -- Reue! es ist das trostloseste Wort, der trostloseste Begriff. Die Schuld ging ihm voran, und keine Vergebung kann sie tilgen; das einmal Geschehene taucht immer wieder aus dem Meere der Vergessenheit auf, und breitet seine düsteren Fittige über Welt und Leben. --

Mein Entschluß, über Hamburg zu reisen, hat mich auf keine Weise gereut; darin lag wirklich kein Eigensinn, obwohl ich nicht ganz sicher bin, ob du ihn nicht dafür hieltest. Der Wunsch, einen Jugendfreund wieder zu sehen, zog mich dorthin. Diesem verdanke ich, zu meinem Heil oder zu meinem Unglück, der Himmel mag es wissen, die Ausbildung Dessen, was du bei mir oft "wunderbare Gaben" genannt hast. Was Poesie in mir ist, ward durch ihn geweckt, denn es schlief noch tief, als ich ihn zuerst erblickte; damals war ich jung, lebensfroh, lebensfrisch. Durch ihn ward ich Alles, was ich jetzt bin. Die Anlagen waren vorhanden, er lehrte mich ihren Werth, ihre Anwendung kennen, und

sich sagen muß: Alles war dein in der Heimath, das liebste Auge suchte dich, das treueste Herz schlug für dich, aber das Alles konnte dir nicht genügen, und freiwillig gabst du es auf! — Kann die Reue dich versöhnen, die solche Betrachtung hervorrufen muß? Ich sehe dich in Gedanken, deine Augen auf mich gerichtet, welche so oft bei solchen Fragen nachdenklich, wehmüthig auf mir ruhten. Wehmüthig blicke auch ich in Gedanken zu dir auf, ich verstehe deinen Schmerz, verstehe du nun auch mein Sehnen und meine Reue! — Reue! es ist das trostloseste Wort, der trostloseste Begriff. Die Schuld ging ihm voran, und keine Vergebung kann sie tilgen; das einmal Geschehene taucht immer wieder aus dem Meere der Vergessenheit auf, und breitet seine düsteren Fittige über Welt und Leben. —

Mein Entschluß, über Hamburg zu reisen, hat mich auf keine Weise gereut; darin lag wirklich kein Eigensinn, obwohl ich nicht ganz sicher bin, ob du ihn nicht dafür hieltest. Der Wunsch, einen Jugendfreund wieder zu sehen, zog mich dorthin. Diesem verdanke ich, zu meinem Heil oder zu meinem Unglück, der Himmel mag es wissen, die Ausbildung Dessen, was du bei mir oft „wunderbare Gaben“ genannt hast. Was Poesie in mir ist, ward durch ihn geweckt, denn es schlief noch tief, als ich ihn zuerst erblickte; damals war ich jung, lebensfroh, lebensfrisch. Durch ihn ward ich Alles, was ich jetzt bin. Die Anlagen waren vorhanden, er lehrte mich ihren Werth, ihre Anwendung kennen, und

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T13:52:17Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T13:52:17Z)

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Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




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Zitationshilfe: F. v. W. [Margarethe von Wolff]: Gemüth und Selbstsucht. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 16. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–86. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_selbstsucht_1910/47>, abgerufen am 28.03.2024.