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F. v. W. [Margarethe von Wolff]: Gemüth und Selbstsucht. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 16. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–86. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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die ganze Familie sah mich als seine Braut an, obgleich mein Jawort nicht gegeben worden, was auch für überflüssig gehalten werden mochte. Als er mich grüßte, fiel mir sein schlichtes blondes Haar zuerst ins Auge, ja es schien, als ob R. ebenfalls einen schnellen, schalkhaften Blick darauf warf. Victor wollte die Ferien bei uns zubringen, und seine Gegenwart veränderte zuerst unser bisheriges schönes, friedliches Leben. R. war sichtlich über seine Dazwischenkunft beunruhigt; daß er mich sehr gestört hätte, kann ich nicht sagen, denn ich legte mit ruhiger Unbefangenheit (du würdest sagen: mit ruhiger Impertinenz) meine Vorliebe für R. an den Tag. Es war ganz unwillkürlich, ich dachte kaum weiter darüber nach. Unmöglich war es indessen nach einiger Zeit, die Kälte und finstere Laune gänzlich zu übersehn, welche Victor mir sehr unverhohlen zeigte; so oft er mir eine unfreundliche Antwort gab, blickte ich besorgt auf Ludwig, aber dieser nahm nie die mindeste Kunde davon.

Eines Tages ging ich, etwas auf meines Bruders Zimmer zu ordnen, er war nicht dort, aber die Fenster standen offen, und er saß mit Victor auf einer Bank unter denselben. Ich hörte meinen Namen nennen und blieb unwillkürlich lauschend stehen. Bester Freund, hörte ich Ludwig sagen, plage dich und mich doch nicht mit so völlig nutzlosen Grillen. Daß meine Schwester R. gefällt, ist ganz natürlich, aber glaube doch nicht, daß er nur daran denkt, sie dir rauben zu wollen; er will

die ganze Familie sah mich als seine Braut an, obgleich mein Jawort nicht gegeben worden, was auch für überflüssig gehalten werden mochte. Als er mich grüßte, fiel mir sein schlichtes blondes Haar zuerst ins Auge, ja es schien, als ob R. ebenfalls einen schnellen, schalkhaften Blick darauf warf. Victor wollte die Ferien bei uns zubringen, und seine Gegenwart veränderte zuerst unser bisheriges schönes, friedliches Leben. R. war sichtlich über seine Dazwischenkunft beunruhigt; daß er mich sehr gestört hätte, kann ich nicht sagen, denn ich legte mit ruhiger Unbefangenheit (du würdest sagen: mit ruhiger Impertinenz) meine Vorliebe für R. an den Tag. Es war ganz unwillkürlich, ich dachte kaum weiter darüber nach. Unmöglich war es indessen nach einiger Zeit, die Kälte und finstere Laune gänzlich zu übersehn, welche Victor mir sehr unverhohlen zeigte; so oft er mir eine unfreundliche Antwort gab, blickte ich besorgt auf Ludwig, aber dieser nahm nie die mindeste Kunde davon.

Eines Tages ging ich, etwas auf meines Bruders Zimmer zu ordnen, er war nicht dort, aber die Fenster standen offen, und er saß mit Victor auf einer Bank unter denselben. Ich hörte meinen Namen nennen und blieb unwillkürlich lauschend stehen. Bester Freund, hörte ich Ludwig sagen, plage dich und mich doch nicht mit so völlig nutzlosen Grillen. Daß meine Schwester R. gefällt, ist ganz natürlich, aber glaube doch nicht, daß er nur daran denkt, sie dir rauben zu wollen; er will

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T13:52:17Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T13:52:17Z)

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Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




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Zitationshilfe: F. v. W. [Margarethe von Wolff]: Gemüth und Selbstsucht. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 16. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–86. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_selbstsucht_1910/27>, abgerufen am 29.03.2024.