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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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Drama "Sakuntala" nicht ohne göttliches Zuthun in die Welt getreten. pwo_035.002
Jm ersten Akt des indischen Dramas heißt es darüber:

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"Als einst jener königliche Weise am Ufer der Gautami strenge pwo_035.004
Buße übte, so gerieten die Götter darüber in Angst und sandten pwo_035.005
die Nymphe Menaka herab, um seinen Bußübungen Hindernisse pwo_035.006
in den Weg zu legen ... Jn den Tagen, wo der pwo_035.007
Frühling zur Erde niedersteigt, sah er ihre bezaubernde Schönheit, pwo_035.008
und da -"

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"Das Uebrige kann ich erraten,"

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unterbricht der König zartfühlend die Erzählerin.

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"Auf jeden Fall stammt sie von einer himmlischen pwo_035.012
Nymphe
..."

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Von besonderer, grundsätzlicher Bedeutung ist der Schluß dieser pwo_035.014
Bemerkung:

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"Das stimmt auch zu allem.

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Wie könnte diese Huldgestalt pwo_035.017
Von einem ird'schen Weibe stammen? pwo_035.018
Der Wetterstrahl, der glänzend zuckt, pwo_035.019
Steigt nicht von dieser Erde auf."
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Scheint dem Redenden einmal die Geliebte über die andern Weiber pwo_035.021
emporzuragen, so ist damit die Vergöttlichung unmittelbar gegeben. pwo_035.022
Denn wie könnte es anders sein?

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"Wie könnte diese Huldgestalt pwo_035.024
Von einem ird'schen Weibe stammen?"
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Ein solches Zeugnis wird um so bemerkenswerter, als wir uns mit pwo_035.026
ihm um anderthalb bis zwei Jahrtausende von den Grundlagen der pwo_035.027
religiösen Veda-Poesie entfernen.

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Dieser Prozeß bleibt nicht auf die indische Poesie beschränkt. pwo_035.029
Aehnlich singt Homer von dem "göttergleichen Odysseus" und giebt pwo_035.030
gerade dem Sänger den charakteristischen Beinamen des "göttlichen":

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"... Denn ihm gab Gott überschwenglich pwo_035.032
Süßen Gesang, wovon auch sein Herz zu singen ihn antreibt."
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Er ist der "Vertraute der Muse", die, ebenfalls eine Gottheit, ihm pwo_035.034
das Lied eingiebt,

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"... deß Ruhm damals den Himmel erreichte."

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Drama „Sakuntala“ nicht ohne göttliches Zuthun in die Welt getreten. pwo_035.002
Jm ersten Akt des indischen Dramas heißt es darüber:

pwo_035.003

„Als einst jener königliche Weise am Ufer der Gáutami strenge pwo_035.004
Buße übte, so gerieten die Götter darüber in Angst und sandten pwo_035.005
die Nymphe Ménaka herab, um seinen Bußübungen Hindernisse pwo_035.006
in den Weg zu legen ... Jn den Tagen, wo der pwo_035.007
Frühling zur Erde niedersteigt, sah er ihre bezaubernde Schönheit, pwo_035.008
und da –“

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„Das Uebrige kann ich erraten,“

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unterbricht der König zartfühlend die Erzählerin.

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Auf jeden Fall stammt sie von einer himmlischen pwo_035.012
Nymphe
...“

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  Von besonderer, grundsätzlicher Bedeutung ist der Schluß dieser pwo_035.014
Bemerkung:

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„Das stimmt auch zu allem.

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Wie könnte diese Huldgestalt pwo_035.017
Von einem ird'schen Weibe stammen? pwo_035.018
Der Wetterstrahl, der glänzend zuckt, pwo_035.019
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Scheint dem Redenden einmal die Geliebte über die andern Weiber pwo_035.021
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„Wie könnte diese Huldgestalt pwo_035.024
Von einem ird'schen Weibe stammen?“
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Ein solches Zeugnis wird um so bemerkenswerter, als wir uns mit pwo_035.026
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religiösen Veda-Poesie entfernen.

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  Dieser Prozeß bleibt nicht auf die indische Poesie beschränkt. pwo_035.029
Aehnlich singt Homer von dem „göttergleichen Odysseus“ und giebt pwo_035.030
gerade dem Sänger den charakteristischen Beinamen des „göttlichen“:

pwo_035.031
„... Denn ihm gab Gott überschwenglich pwo_035.032
Süßen Gesang, wovon auch sein Herz zu singen ihn antreibt.“
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Er ist der „Vertraute der Muse“, die, ebenfalls eine Gottheit, ihm pwo_035.034
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[35/0049] pwo_035.001 Drama „Sakuntala“ nicht ohne göttliches Zuthun in die Welt getreten. pwo_035.002 Jm ersten Akt des indischen Dramas heißt es darüber: pwo_035.003 „Als einst jener königliche Weise am Ufer der Gáutami strenge pwo_035.004 Buße übte, so gerieten die Götter darüber in Angst und sandten pwo_035.005 die Nymphe Ménaka herab, um seinen Bußübungen Hindernisse pwo_035.006 in den Weg zu legen ... Jn den Tagen, wo der pwo_035.007 Frühling zur Erde niedersteigt, sah er ihre bezaubernde Schönheit, pwo_035.008 und da –“ pwo_035.009 „Das Uebrige kann ich erraten,“ pwo_035.010 unterbricht der König zartfühlend die Erzählerin. pwo_035.011 „Auf jeden Fall stammt sie von einer himmlischen pwo_035.012 Nymphe ...“ pwo_035.013   Von besonderer, grundsätzlicher Bedeutung ist der Schluß dieser pwo_035.014 Bemerkung: pwo_035.015 „Das stimmt auch zu allem. pwo_035.016 Wie könnte diese Huldgestalt pwo_035.017 Von einem ird'schen Weibe stammen? pwo_035.018 Der Wetterstrahl, der glänzend zuckt, pwo_035.019 Steigt nicht von dieser Erde auf.“ pwo_035.020 Scheint dem Redenden einmal die Geliebte über die andern Weiber pwo_035.021 emporzuragen, so ist damit die Vergöttlichung unmittelbar gegeben. pwo_035.022 Denn wie könnte es anders sein? pwo_035.023 „Wie könnte diese Huldgestalt pwo_035.024 Von einem ird'schen Weibe stammen?“ pwo_035.025 Ein solches Zeugnis wird um so bemerkenswerter, als wir uns mit pwo_035.026 ihm um anderthalb bis zwei Jahrtausende von den Grundlagen der pwo_035.027 religiösen Veda-Poesie entfernen. pwo_035.028   Dieser Prozeß bleibt nicht auf die indische Poesie beschränkt. pwo_035.029 Aehnlich singt Homer von dem „göttergleichen Odysseus“ und giebt pwo_035.030 gerade dem Sänger den charakteristischen Beinamen des „göttlichen“: pwo_035.031 „... Denn ihm gab Gott überschwenglich pwo_035.032 Süßen Gesang, wovon auch sein Herz zu singen ihn antreibt.“ pwo_035.033 Er ist der „Vertraute der Muse“, die, ebenfalls eine Gottheit, ihm pwo_035.034 das Lied eingiebt, pwo_035.035 „... deß Ruhm damals den Himmel erreichte.“

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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/49>, abgerufen am 24.04.2024.