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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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Das Wesen der Poesie.
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§ 25. pwo_029.003
Religiöser Charakter der ältesten Poesie.
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Wir stehen am Beginn unseres Weges. Vor uns liegt die vorgeschichtliche pwo_029.005
Zeit in undurchdringlichem Nebel, welcher auch den Quell pwo_029.006
der Poesie unserm Blicke entrückt. Auf Kombinationen heißt uns pwo_029.007
unsere Methode der Thatsachen verzichten. Nur so viel stellten wir pwo_029.008
bereits fest: sehen wir in geschichtlich erschlossener Zeit sich die Poesie pwo_029.009
nach einer bestimmten Richtung entwickeln, so kann in der noch unerschlossenen pwo_029.010
Zeit, der wir andauernd neue Jahrhunderte abringen, pwo_029.011
die Entwicklung nicht in umgekehrter Richtung geschehen sein.

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Vor welche Thatsachen stellt uns aber die älteste erschlossene pwo_029.013
Poesie? So vielen Eingriffen im einzelnen Sprache und Stil derselben pwo_029.014
bei der Verpflanzung durch die Jahrhunderte ausgesetzt gewesen, pwo_029.015
die indischen Veden bleiben das der Zeit nach erste unter den pwo_029.016
erhaltenen poetischen Denkmalen der indogermanischen Völkerfamilie. pwo_029.017
Jm Rig-Veda hören wir die als Göttin personifizierte Rede ihre pwo_029.018
Macht also preisen:

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"Jch bin die Fürstin, Sammlerin der Güter, pwo_029.020
Zuerst hab' ich erkannt die heil'gen Götter; pwo_029.021
Drum haben sie mich überall verbreitet, pwo_029.022
Die ich in vieles dringe und drin weile. pwo_029.023
Jch zeug' des Weltalls Vater in der Höhe, pwo_029.024
Mein Sitz ist in den Wassern, in dem Meere, pwo_029.025
Von da verbreit' ich mich in alle Wesen, pwo_029.026
Berühr' mit meinem Scheitel dort den Himmel. pwo_029.027
Jch bin es, die da wehet gleich dem Winde,
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Religiöser Charakter der ältesten Poesie.
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„Jch bin die Fürstin, Sammlerin der Güter, pwo_029.020
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[E29/0043] pwo_029.001 Das Wesen der Poesie. pwo_029.002 § 25. pwo_029.003 Religiöser Charakter der ältesten Poesie. pwo_029.004   Wir stehen am Beginn unseres Weges. Vor uns liegt die vorgeschichtliche pwo_029.005 Zeit in undurchdringlichem Nebel, welcher auch den Quell pwo_029.006 der Poesie unserm Blicke entrückt. Auf Kombinationen heißt uns pwo_029.007 unsere Methode der Thatsachen verzichten. Nur so viel stellten wir pwo_029.008 bereits fest: sehen wir in geschichtlich erschlossener Zeit sich die Poesie pwo_029.009 nach einer bestimmten Richtung entwickeln, so kann in der noch unerschlossenen pwo_029.010 Zeit, der wir andauernd neue Jahrhunderte abringen, pwo_029.011 die Entwicklung nicht in umgekehrter Richtung geschehen sein. pwo_029.012   Vor welche Thatsachen stellt uns aber die älteste erschlossene pwo_029.013 Poesie? So vielen Eingriffen im einzelnen Sprache und Stil derselben pwo_029.014 bei der Verpflanzung durch die Jahrhunderte ausgesetzt gewesen, pwo_029.015 die indischen Veden bleiben das der Zeit nach erste unter den pwo_029.016 erhaltenen poetischen Denkmalen der indogermanischen Völkerfamilie. pwo_029.017 Jm Rig-Veda hören wir die als Göttin personifizierte Rede ihre pwo_029.018 Macht also preisen: pwo_029.019 „Jch bin die Fürstin, Sammlerin der Güter, pwo_029.020 Zuerst hab' ich erkannt die heil'gen Götter; pwo_029.021 Drum haben sie mich überall verbreitet, pwo_029.022 Die ich in vieles dringe und drin weile. pwo_029.023 Jch zeug' des Weltalls Vater in der Höhe, pwo_029.024 Mein Sitz ist in den Wassern, in dem Meere, pwo_029.025 Von da verbreit' ich mich in alle Wesen, pwo_029.026 Berühr' mit meinem Scheitel dort den Himmel. pwo_029.027 Jch bin es, die da wehet gleich dem Winde,

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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. E29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/43>, abgerufen am 29.03.2024.