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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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Poesie scheinen nun freilich der Auffassung zu widersprechen, daß der pwo_027.005
Weg der Kunst aus konkreter Objektivität zu abstrakter Subjektivität pwo_027.006
führe. Der Veda der Jnder, die Edda der Skandinaven tragen zwar pwo_027.007
noch episch-lyrischen Charakter, zeigen aber die lyrische Erweichung pwo_027.008
stellenweise bis zur Phantastik entartet.

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der Veden, den Hymnen des Rigveda, sich Zeichen anhebender pwo_027.011
Entartung finden, die vor der Ansetzung eines Uralters für pwo_027.012
diese religionspoetischen Denkmäler warnen. Unverkennbar zeigen die pwo_027.013
Veden den Charakter von Priestermanualen, welche das poetische Material pwo_027.014
für den Opferkultus überlieferten. Die eigentliche Mythenschöpfung pwo_027.015
muß einer solchen Art Poesie vorangegangen sein. Andererseits pwo_027.016
steht der Hinzutritt neuen Materials und die Verdunkelung mancher pwo_027.017
älteren Stellen fest. Suchten die Priester den altehrwürdigen pwo_027.018
Charakter der Veden auch zu erhalten, so läßt sich die große Wahrscheinlichkeit pwo_027.019
wiederholter Ueberarbeitungen für den Lauf der Jahrhunderte pwo_027.020
kaum abweisen. - Gar für die Edda unterliegt heute die pwo_027.021
späte Entstehung und irgend eine Berührung mit den Vorstellungen pwo_027.022
des Christentums keinem Zweifel mehr.

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Treffend betont Paul de Lagarde deshalb: es seien die uns pwo_027.024
überlieferten Mythen, besonders "Veda und Edda und was diesen beiden pwo_027.025
näher oder ferner analog ist, in ihrer Gesamtheit durchaus nicht pwo_027.026
... die Aeußerung eines originalen Lebens, sondern Mittel, um pwo_027.027
den Nachklang originalen, aber vergangenen Lebens ... festzuhalten. pwo_027.028
Die Edda ist der krankhafte Mißverstand einer gelehrten, dem germanischen pwo_027.029
Volke aufgezwungenen Symbolsprache ... Und bei den pwo_027.030
Veden wird es nur dem Grade nach anders sein."

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Fortsetzung: Die sogenannten Naturvölker.
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Ebenso wenig kommt die Poesie der heutigen fälschlich sogenannten pwo_027.034
Naturvölker als eigentlich echte Grundlage für entwicklungsgeschichtliche pwo_027.035
Untersuchungen in betracht.

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Poesie scheinen nun freilich der Auffassung zu widersprechen, daß der pwo_027.005
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  Nun tritt schon bedeutsam hervor, wie selbst in den ältesten Bestandteilen pwo_027.010
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Entartung finden, die vor der Ansetzung eines Uralters für pwo_027.012
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kaum abweisen. – Gar für die Edda unterliegt heute die pwo_027.021
späte Entstehung und irgend eine Berührung mit den Vorstellungen pwo_027.022
des Christentums keinem Zweifel mehr.

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  Treffend betont Paul de Lagarde deshalb: es seien die uns pwo_027.024
überlieferten Mythen, besonders „Veda und Edda und was diesen beiden pwo_027.025
näher oder ferner analog ist, in ihrer Gesamtheit durchaus nicht pwo_027.026
... die Aeußerung eines originalen Lebens, sondern Mittel, um pwo_027.027
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Volke aufgezwungenen Symbolsprache ... Und bei den pwo_027.030
Veden wird es nur dem Grade nach anders sein.“

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Fortsetzung: Die sogenannten Naturvölker.
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  Ebenso wenig kommt die Poesie der heutigen fälschlich sogenannten pwo_027.034
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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/41>, abgerufen am 23.04.2024.