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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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mit der gebundenen Rede zu rechtfertigen. Jn anderer Hinsicht pwo_013.002
ist die Bestimmung umgekehrt sogar zu weit, denn sie schließt pwo_013.003
jedes Hochzeitskarmen, jede in gebundener Rede entworfene Geschäftsreklame pwo_013.004
in den Bezirk der Dichtung.

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Der Nutzen als Zweck der Poesie.
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Die Poetik des 17. Jahrhunderts hatte noch eine weitere Lehre pwo_013.008
aus Horaz gezogen: nützen oder ergötzen, am besten beides solle die pwo_013.009
Poesie. Jndem man jedoch das Hauptgewicht auf den Nutzen legte, pwo_013.010
erschien die Bereicherung der intellektuellen und moralischen Anlagen pwo_013.011
als Ziel der Poesie.

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Der Geist damaliger Dichtung ist mit dieser Begriffsbestimmung pwo_013.013
gewiß getroffen, nicht aber der Geist aller Dichtung - und der höchsten pwo_013.014
am wenigsten. Um die Unzulänglichkeit einer Definition zu erweisen, pwo_013.015
bedarf es nicht eines umfassenden Gegenbeweises, es genügt pwo_013.016
die Erkenntnis, daß sie nicht allgemeingültig ist, ja wie wenig sie das pwo_013.017
Wesen derjenigen Dichtungen kennzeichnet, die als besonders eindrucksvolle pwo_013.018
Schöpfungen der Poesie erscheinen.

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Niemand wird als Zweck der Shakespeareschen Dramen den pwo_013.020
Nutzen hinstellen wollen. Der Zweck des "Hamlet" sollte in einer pwo_013.021
schalen Warnung vor dem Zaudern bestehen? "König Lear" wäre pwo_013.022
nichts als oder überhaupt ein Exempel zu dem Volksspruch:

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"Wer seinen Kindern giebt das Brot pwo_013.024
Und leidet nachmals selber Not, pwo_013.025
Den soll man schlagen mit der Keule tot"?
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Aehnlich müßte der Nutzen von "Romeo und Julia" in der Warnung pwo_013.027
vor Zwietracht oder vor Leidenschaft oder vor zu eilfertigem Selbstmord pwo_013.028
bestehen - genug, man gelangt auf diesem Wege zu unzähligen pwo_013.029
Absurditäten.

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Ebenso wenig sprechen Goethesche Gedichte von Nutzen und Belehrung:

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"Fühle, was dies Herz empfindet!"
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fordert das eine,

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Der Nutzen als Zweck der Poesie.
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Absurditäten.

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  Ebenso wenig sprechen Goethesche Gedichte von Nutzen und Belehrung:

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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/27>, abgerufen am 29.03.2024.