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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Stesichoros. die chorische lyrik.
um 580 der ordner dieser gattung auftritt? und dass gerade in Sicilien,
wo das epos fehlte, die chorische lyrik das gefäss der sage ward, ist
vollends begreiflich. wir wissen nun leider nicht, zu welchen heiligen
oder profanen zwecken Stesichoros seine chorlieder verfasst hat, wenn
auch die novelle darin ein richtiges bild zweifellos von ihm bewahrt
hat, dass er in den höchsten kreisen der nation eine stellung wie Simo-
nides hat. wir sehen aber, dass er bald so objectiv erzählt wie Homer,
bald so subjectiv wie Alkman (denn nur so ist die palinodie verständ-
lich): und wir werden nicht fehl gehen, wenn wir die späteren verhält-
nisse so ziemlich auch auf ihn übertragen. dass er es vor allen gewesen
ist, der den späteren dichtern ihr instrument, den chor, hergerichtet hat,
und dass er als die aufgabe der lyrik erkannt hat das epos zu ersetzen,
ist deutlich und ist die hauptsache.

Simonides und Pindaros lassen uns die verhältnisse, wie sie seitDie chori-
sche lyrik.

der zweiten hälfte des 6. jahrhunderts lagen, mit vollkommener deutlich-
keit übersehen. bei allen möglichen gelegenheiten, zu ehren der götter
oder der menschen, an den tagen, deren feier von der allgemeinen sitte
geboten ist, ebenso wie ohne solchen äussern anlass, wenn nur stimmung
und möglichkeit vorhanden sind, treten chöre auf, von männern oder
jünglingen, was nicht gesondert wird, im götterdienste einzeln auch von
jungfrauen. sie singen zum tanze oder auch zum marsche ein lied eigens
zu diesem behufe gedichtet. dies lied ist immer das wort des dichters; er
redet durch den chor in eigener person. er erfindet jedesmal ein neues
mass; aber fast ausschliesslich aus ganz wenigen bestimmten rhythmen-
geschlechtern. auch den inhalt gestaltet er frei; aber trotz aller mannig-
faltigkeit der anlässe und also auch der aufgaben ist die behandlungsart
und der ton durch ein festes herkommen gebunden. die sprache ist
ein künstliches gebilde; noch immer zeigt sie, wenn auch in anderem
mischungsverhältnis 36), die drei ingredientien wie bei Alkman; aber die

36) Das aeolische grundelement ist zurückgetreten, der einfluss der epischen
sprache wiegt stark vor. das dorische element hat mit grosser feinhörigkeit alles
abzustreifen gewusst, was nicht aller orten galt; specifisch Lakonisches, Korinthisches,
Boeotisches ist gänzlich ausgetilgt. es ist verkehrt dies grundelement landschaftlich
benennen zu wollen. dass sich der geborne Boeoter etwas anders benimmt als der
geborne Chalkidier ist natürlich: das geschieht unwillkürlich. diese differenzen
innerhalb der gleichen sprache finden sich nicht bloss im epos ähnlich: sie gibt es
auch in der prosa, gibt es zu allen zeiten. Lessing Goethe Schiller schreiben die-
selbe sprache, schreiben deutsch; aber den Lausitzer Franken Schwaben verleugnen
sie nicht. nicht stärker ist die differenz zwischen Hesiod und asiatischen epikern,
Mimnermos Solon Tyrtaios Theognis, Stesichoros Pindaros Simonides. und genau

Stesichoros. die chorische lyrik.
um 580 der ordner dieser gattung auftritt? und daſs gerade in Sicilien,
wo das epos fehlte, die chorische lyrik das gefäſs der sage ward, ist
vollends begreiflich. wir wissen nun leider nicht, zu welchen heiligen
oder profanen zwecken Stesichoros seine chorlieder verfaſst hat, wenn
auch die novelle darin ein richtiges bild zweifellos von ihm bewahrt
hat, daſs er in den höchsten kreisen der nation eine stellung wie Simo-
nides hat. wir sehen aber, daſs er bald so objectiv erzählt wie Homer,
bald so subjectiv wie Alkman (denn nur so ist die palinodie verständ-
lich): und wir werden nicht fehl gehen, wenn wir die späteren verhält-
nisse so ziemlich auch auf ihn übertragen. daſs er es vor allen gewesen
ist, der den späteren dichtern ihr instrument, den chor, hergerichtet hat,
und daſs er als die aufgabe der lyrik erkannt hat das epos zu ersetzen,
ist deutlich und ist die hauptsache.

Simonides und Pindaros lassen uns die verhältnisse, wie sie seitDie chori-
sche lyrik.

der zweiten hälfte des 6. jahrhunderts lagen, mit vollkommener deutlich-
keit übersehen. bei allen möglichen gelegenheiten, zu ehren der götter
oder der menschen, an den tagen, deren feier von der allgemeinen sitte
geboten ist, ebenso wie ohne solchen äuſsern anlaſs, wenn nur stimmung
und möglichkeit vorhanden sind, treten chöre auf, von männern oder
jünglingen, was nicht gesondert wird, im götterdienste einzeln auch von
jungfrauen. sie singen zum tanze oder auch zum marsche ein lied eigens
zu diesem behufe gedichtet. dies lied ist immer das wort des dichters; er
redet durch den chor in eigener person. er erfindet jedesmal ein neues
maſs; aber fast ausschlieſslich aus ganz wenigen bestimmten rhythmen-
geschlechtern. auch den inhalt gestaltet er frei; aber trotz aller mannig-
faltigkeit der anlässe und also auch der aufgaben ist die behandlungsart
und der ton durch ein festes herkommen gebunden. die sprache ist
ein künstliches gebilde; noch immer zeigt sie, wenn auch in anderem
mischungsverhältnis 36), die drei ingredientien wie bei Alkman; aber die

36) Das aeolische grundelement ist zurückgetreten, der einfluſs der epischen
sprache wiegt stark vor. das dorische element hat mit groſser feinhörigkeit alles
abzustreifen gewuſst, was nicht aller orten galt; specifisch Lakonisches, Korinthisches,
Boeotisches ist gänzlich ausgetilgt. es ist verkehrt dies grundelement landschaftlich
benennen zu wollen. daſs sich der geborne Boeoter etwas anders benimmt als der
geborne Chalkidier ist natürlich: das geschieht unwillkürlich. diese differenzen
innerhalb der gleichen sprache finden sich nicht bloſs im epos ähnlich: sie gibt es
auch in der prosa, gibt es zu allen zeiten. Lessing Goethe Schiller schreiben die-
selbe sprache, schreiben deutsch; aber den Lausitzer Franken Schwaben verleugnen
sie nicht. nicht stärker ist die differenz zwischen Hesiod und asiatischen epikern,
Mimnermos Solon Tyrtaios Theognis, Stesichoros Pindaros Simonides. und genau
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[73/0093] Stesichoros. die chorische lyrik. um 580 der ordner dieser gattung auftritt? und daſs gerade in Sicilien, wo das epos fehlte, die chorische lyrik das gefäſs der sage ward, ist vollends begreiflich. wir wissen nun leider nicht, zu welchen heiligen oder profanen zwecken Stesichoros seine chorlieder verfaſst hat, wenn auch die novelle darin ein richtiges bild zweifellos von ihm bewahrt hat, daſs er in den höchsten kreisen der nation eine stellung wie Simo- nides hat. wir sehen aber, daſs er bald so objectiv erzählt wie Homer, bald so subjectiv wie Alkman (denn nur so ist die palinodie verständ- lich): und wir werden nicht fehl gehen, wenn wir die späteren verhält- nisse so ziemlich auch auf ihn übertragen. daſs er es vor allen gewesen ist, der den späteren dichtern ihr instrument, den chor, hergerichtet hat, und daſs er als die aufgabe der lyrik erkannt hat das epos zu ersetzen, ist deutlich und ist die hauptsache. Simonides und Pindaros lassen uns die verhältnisse, wie sie seit der zweiten hälfte des 6. jahrhunderts lagen, mit vollkommener deutlich- keit übersehen. bei allen möglichen gelegenheiten, zu ehren der götter oder der menschen, an den tagen, deren feier von der allgemeinen sitte geboten ist, ebenso wie ohne solchen äuſsern anlaſs, wenn nur stimmung und möglichkeit vorhanden sind, treten chöre auf, von männern oder jünglingen, was nicht gesondert wird, im götterdienste einzeln auch von jungfrauen. sie singen zum tanze oder auch zum marsche ein lied eigens zu diesem behufe gedichtet. dies lied ist immer das wort des dichters; er redet durch den chor in eigener person. er erfindet jedesmal ein neues maſs; aber fast ausschlieſslich aus ganz wenigen bestimmten rhythmen- geschlechtern. auch den inhalt gestaltet er frei; aber trotz aller mannig- faltigkeit der anlässe und also auch der aufgaben ist die behandlungsart und der ton durch ein festes herkommen gebunden. die sprache ist ein künstliches gebilde; noch immer zeigt sie, wenn auch in anderem mischungsverhältnis 36), die drei ingredientien wie bei Alkman; aber die Die chori- sche lyrik. 36) Das aeolische grundelement ist zurückgetreten, der einfluſs der epischen sprache wiegt stark vor. das dorische element hat mit groſser feinhörigkeit alles abzustreifen gewuſst, was nicht aller orten galt; specifisch Lakonisches, Korinthisches, Boeotisches ist gänzlich ausgetilgt. es ist verkehrt dies grundelement landschaftlich benennen zu wollen. daſs sich der geborne Boeoter etwas anders benimmt als der geborne Chalkidier ist natürlich: das geschieht unwillkürlich. diese differenzen innerhalb der gleichen sprache finden sich nicht bloſs im epos ähnlich: sie gibt es auch in der prosa, gibt es zu allen zeiten. Lessing Goethe Schiller schreiben die- selbe sprache, schreiben deutsch; aber den Lausitzer Franken Schwaben verleugnen sie nicht. nicht stärker ist die differenz zwischen Hesiod und asiatischen epikern, Mimnermos Solon Tyrtaios Theognis, Stesichoros Pindaros Simonides. und genau

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/93>, abgerufen am 20.04.2024.