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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Das lied. Alkman.
selbst für Athen war dies lied eine exotische pflanze und hat nur durch
die form nachhaltig gewirkt. noch viel weniger hätten Dorer, z. b. die
uns aus Pindar so wolbekannte aeginetische gesellschaft damit anfangen
können. unter den festlandsgriechen üben nur einige weiblein das lied,
die so oder so, als vaterlandsverteidigerin wie Telesilla, oder als hetäre 33)
wie Praxilla, aus den schranken ihres geschlechtes treten. Korinna ist
ein braves mühmchen, und erzählt in ihren sehr kunstlosen aeolischen
rhythmen den Tanagraerinnen ihre mährlein (geroia); sie ist allerdings
eine art Sappho, nur eine boeotische. das alles stieg nicht in die leitenden
kreise der gesellschaft.

Und doch war schon im 7. jahrhundert ein kräftiger bach aeolischer
liederpoesie nach dem mutterlande herübergekommen, der immer stärker
anschwellend schliesslich das stolze schiff der aischyleischen tragödie flott
gemacht hat.

Schon früh im siebenten jahrhundert sind fahrende sänger aus LesbosAlkman.
im Peloponnes aufgetreten und der name des Terpandros zumal steht
an der spitze der musikgeschichte. in wie weit die theoriker der aristo-
telischen zeit, welche uns davon erzählen, eine zuverlässige kunde von
seinen musikalischen leistungen besassen, sind wir ausser stande zu con-
trolliren, worin nicht liegt, dass wir darauf fest bauen dürften. dichtungen
aus dem siebenten jahrhundert waren nicht erhalten 34). dennoch reichen
die reste Alkmans hin, um von dem litterargeschichtlichen zusammen-
hange eine deutliche vorstellung zu gewinnen. er wendet die formen
der lesbischen poesie an, zwar nicht die ausgebildeten des Alkaios oder
gar der Sappho, aber ersichtlich ihre vorstufen, die Terpandros einge-
führt hatte. er beherrscht ausserdem eine ganze reihe der ionischen
versmasse (iamben, trochaeen, paeone, ioniker), und hat begonnen nach
dieser analogie einzelnes epichorische auszubilden (anapaeste). seine sprache
ist das getreue abbild dieser mischung der formen, denn das lesbische,

33) Ein weib, das trinklieder dichtet, ist man berechtigt als eine solche zu
betrachten.
34) Die gute grammatikertradition hat die gedichte verworfen, welche auf Ter-
pandros namen giengen, Strab. XIII 618. und wenn wir tetragerun mit kurzer erster
sylbe und ergon mit vocalischem anlaute finden, so sieht das wenig nach dem siebenten
jahrhundert aus, bei einem Aeoler in Sparta zumal. dass in der musikalischen praxis
sich lieder fanden, die man ihm zuschrieb, ist sehr begreiflich: sehen wir doch dass
die neuern geschäftig sind ihm adespota zuzuweisen, und nicht einmal daran an-
stossen, wenn Zeus als die arkhe des alls bezeichnet wird, und der dichter ihm seiner-
seits deshalb die arkhe umnon sendet. als ob dies weltprincip und dieser wortwitz
überhaupt in der archaischen zeit zu denken wäre.

Das lied. Alkman.
selbst für Athen war dies lied eine exotische pflanze und hat nur durch
die form nachhaltig gewirkt. noch viel weniger hätten Dorer, z. b. die
uns aus Pindar so wolbekannte aeginetische gesellschaft damit anfangen
können. unter den festlandsgriechen üben nur einige weiblein das lied,
die so oder so, als vaterlandsverteidigerin wie Telesilla, oder als hetäre 33)
wie Praxilla, aus den schranken ihres geschlechtes treten. Korinna ist
ein braves mühmchen, und erzählt in ihren sehr kunstlosen aeolischen
rhythmen den Tanagraerinnen ihre mährlein (γέροια); sie ist allerdings
eine art Sappho, nur eine boeotische. das alles stieg nicht in die leitenden
kreise der gesellschaft.

Und doch war schon im 7. jahrhundert ein kräftiger bach aeolischer
liederpoesie nach dem mutterlande herübergekommen, der immer stärker
anschwellend schlieſslich das stolze schiff der aischyleischen tragödie flott
gemacht hat.

Schon früh im siebenten jahrhundert sind fahrende sänger aus LesbosAlkman.
im Peloponnes aufgetreten und der name des Terpandros zumal steht
an der spitze der musikgeschichte. in wie weit die theoriker der aristo-
telischen zeit, welche uns davon erzählen, eine zuverlässige kunde von
seinen musikalischen leistungen besaſsen, sind wir auſser stande zu con-
trolliren, worin nicht liegt, daſs wir darauf fest bauen dürften. dichtungen
aus dem siebenten jahrhundert waren nicht erhalten 34). dennoch reichen
die reste Alkmans hin, um von dem litterargeschichtlichen zusammen-
hange eine deutliche vorstellung zu gewinnen. er wendet die formen
der lesbischen poesie an, zwar nicht die ausgebildeten des Alkaios oder
gar der Sappho, aber ersichtlich ihre vorstufen, die Terpandros einge-
führt hatte. er beherrscht auſserdem eine ganze reihe der ionischen
versmaſse (iamben, trochaeen, paeone, ioniker), und hat begonnen nach
dieser analogie einzelnes epichorische auszubilden (anapaeste). seine sprache
ist das getreue abbild dieser mischung der formen, denn das lesbische,

33) Ein weib, das trinklieder dichtet, ist man berechtigt als eine solche zu
betrachten.
34) Die gute grammatikertradition hat die gedichte verworfen, welche auf Ter-
pandros namen giengen, Strab. XIII 618. und wenn wir τετράγηρυν mit kurzer erster
sylbe und ἔργων mit vocalischem anlaute finden, so sieht das wenig nach dem siebenten
jahrhundert aus, bei einem Aeoler in Sparta zumal. daſs in der musikalischen praxis
sich lieder fanden, die man ihm zuschrieb, ist sehr begreiflich: sehen wir doch daſs
die neuern geschäftig sind ihm adespota zuzuweisen, und nicht einmal daran an-
stoſsen, wenn Zeus als die ἀρχή des alls bezeichnet wird, und der dichter ihm seiner-
seits deshalb die ἀρχὴ ὕμνων sendet. als ob dies weltprincip und dieser wortwitz
überhaupt in der archaischen zeit zu denken wäre.
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[71/0091] Das lied. Alkman. selbst für Athen war dies lied eine exotische pflanze und hat nur durch die form nachhaltig gewirkt. noch viel weniger hätten Dorer, z. b. die uns aus Pindar so wolbekannte aeginetische gesellschaft damit anfangen können. unter den festlandsgriechen üben nur einige weiblein das lied, die so oder so, als vaterlandsverteidigerin wie Telesilla, oder als hetäre 33) wie Praxilla, aus den schranken ihres geschlechtes treten. Korinna ist ein braves mühmchen, und erzählt in ihren sehr kunstlosen aeolischen rhythmen den Tanagraerinnen ihre mährlein (γέροια); sie ist allerdings eine art Sappho, nur eine boeotische. das alles stieg nicht in die leitenden kreise der gesellschaft. Und doch war schon im 7. jahrhundert ein kräftiger bach aeolischer liederpoesie nach dem mutterlande herübergekommen, der immer stärker anschwellend schlieſslich das stolze schiff der aischyleischen tragödie flott gemacht hat. Schon früh im siebenten jahrhundert sind fahrende sänger aus Lesbos im Peloponnes aufgetreten und der name des Terpandros zumal steht an der spitze der musikgeschichte. in wie weit die theoriker der aristo- telischen zeit, welche uns davon erzählen, eine zuverlässige kunde von seinen musikalischen leistungen besaſsen, sind wir auſser stande zu con- trolliren, worin nicht liegt, daſs wir darauf fest bauen dürften. dichtungen aus dem siebenten jahrhundert waren nicht erhalten 34). dennoch reichen die reste Alkmans hin, um von dem litterargeschichtlichen zusammen- hange eine deutliche vorstellung zu gewinnen. er wendet die formen der lesbischen poesie an, zwar nicht die ausgebildeten des Alkaios oder gar der Sappho, aber ersichtlich ihre vorstufen, die Terpandros einge- führt hatte. er beherrscht auſserdem eine ganze reihe der ionischen versmaſse (iamben, trochaeen, paeone, ioniker), und hat begonnen nach dieser analogie einzelnes epichorische auszubilden (anapaeste). seine sprache ist das getreue abbild dieser mischung der formen, denn das lesbische, Alkman. 33) Ein weib, das trinklieder dichtet, ist man berechtigt als eine solche zu betrachten. 34) Die gute grammatikertradition hat die gedichte verworfen, welche auf Ter- pandros namen giengen, Strab. XIII 618. und wenn wir τετράγηρυν mit kurzer erster sylbe und ἔργων mit vocalischem anlaute finden, so sieht das wenig nach dem siebenten jahrhundert aus, bei einem Aeoler in Sparta zumal. daſs in der musikalischen praxis sich lieder fanden, die man ihm zuschrieb, ist sehr begreiflich: sehen wir doch daſs die neuern geschäftig sind ihm adespota zuzuweisen, und nicht einmal daran an- stoſsen, wenn Zeus als die ἀρχή des alls bezeichnet wird, und der dichter ihm seiner- seits deshalb die ἀρχὴ ὕμνων sendet. als ob dies weltprincip und dieser wortwitz überhaupt in der archaischen zeit zu denken wäre.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/91>, abgerufen am 20.04.2024.