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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Was ist eine attische tragödie?
auch die Aeoler sind schon im niedergange, verlieren manche küsten-
plätze 31) und sind in der cultur nunmehr die empfangenden. dennoch
erkennen wir dass es einst umgekehrt gewesen war. eben das epos,
welches doch der lebendige ausdruck der ionischen suprematie ist, trägt
die deutlichen spuren in form und inhalt davon, dass es aus aeolischer
wurzel stammt. aber freilich, die Ionier haben es aus ihrem geiste neu
geboren; nur dem bewaffneten auge des forschers erscheinen die ein-
zelnen fremden züge. und erst als ein ionisches, als Homers werk, hat
das epos die culturmission übernommen, das mutterland wieder für das
Hellenentum zu gewinnen. ist doch selbst Aeolien in den zauberbann
des ionischen epos getreten. Hesiodos (wol um 700), der aus einer aeoli-
schen familie stammte, und als hintersasse in dem boeotischen Askra zum
dichter ward, hängt vollkommen von dem homerischen epos ab, seine
stolzeste erinnerung ist, dass er bei den leichenspielen eines fürsten in
dem ionischen Chalkis den preis erhalten hat: und um 600 ist seine
dichtung in Mytilene populär.

Das ioni-
sche epos
wandert in
Hellas ein.

Das ionische epos befand sich in den händen von berussmässigen
sängern oder besser sprechern. wie alle griechische kunst, war auch
der homerische stil das ergebnis langer handwerksmässiger übung, und
nur wer ihn gelernt hatte, vermochte ihn zu üben. dichten und vortragen
waren keine geschiedenen berufe. der stoff aber war volksmässig. denn
auch die von den Aeolern entlehnten elemente waren es längst geworden.
allein nach dem mutterlande trugen die sänger den Homer als etwas
inhaltlich und formell neues, höchstens durch die von mund zu mund
gehende sage ein wenig vorbereitetes. das epos kam übers meer wie

31) Man hat auf grund der mundart vermutet, dass auch Chios ursprünglich
aeolisch gewesen wäre. aber dafür liegt weder in der geschichte noch in der sage ein
anhalt vor. und der schluss aus der sprache beruht auf einer verkennung des ge-
schichtlichen vorganges. die neuen stämme waren ja niemals vorher da gewesen,
sowol Aeoler wie Ionier bilden sich erst allmählich unter dem drucke besonderer
geschichtlicher factoren. zunächst war das mischungsverhältnis der bevölkerung aller-
orten verschieden, die geschichtlichen factoren waren verschieden und so ergaben sich
zunächst ganz verschiedene volks- und sprachtypen. eine sprachgrenze von aeolisch
und ionisch gab es also auch noch nicht; diese ward erst gezogen, als der zusammen-
schluss der staatenbünde bestimmte kreise zog. gewiss haben in Lesbos und Chios
mehr verwandte familien sich angesiedelt als in Lesbos und Milet, und hat auch in
Lesbos nicht nur eine unter sich verwandte bevölkerung gesessen: das spürt man
dann in den mundarten. die Chier würden unter der herrschaft der Mytilenaeer
oder in staatlicher gemeinschaft mit ihnen Aeoler haben werden können: in der
panionischen gemeinschaft sind sie Ionier geworden. aber hier liegt kein gewaltact
vor, sondern ein stilles organisches wachstum.

Was ist eine attische tragödie?
auch die Aeoler sind schon im niedergange, verlieren manche küsten-
plätze 31) und sind in der cultur nunmehr die empfangenden. dennoch
erkennen wir daſs es einst umgekehrt gewesen war. eben das epos,
welches doch der lebendige ausdruck der ionischen suprematie ist, trägt
die deutlichen spuren in form und inhalt davon, daſs es aus aeolischer
wurzel stammt. aber freilich, die Ionier haben es aus ihrem geiste neu
geboren; nur dem bewaffneten auge des forschers erscheinen die ein-
zelnen fremden züge. und erst als ein ionisches, als Homers werk, hat
das epos die culturmission übernommen, das mutterland wieder für das
Hellenentum zu gewinnen. ist doch selbst Aeolien in den zauberbann
des ionischen epos getreten. Hesiodos (wol um 700), der aus einer aeoli-
schen familie stammte, und als hintersasse in dem boeotischen Askra zum
dichter ward, hängt vollkommen von dem homerischen epos ab, seine
stolzeste erinnerung ist, daſs er bei den leichenspielen eines fürsten in
dem ionischen Chalkis den preis erhalten hat: und um 600 ist seine
dichtung in Mytilene populär.

Das ioni-
sche epos
wandert in
Hellas ein.

Das ionische epos befand sich in den händen von beruſsmäſsigen
sängern oder besser sprechern. wie alle griechische kunst, war auch
der homerische stil das ergebnis langer handwerksmäſsiger übung, und
nur wer ihn gelernt hatte, vermochte ihn zu üben. dichten und vortragen
waren keine geschiedenen berufe. der stoff aber war volksmäſsig. denn
auch die von den Aeolern entlehnten elemente waren es längst geworden.
allein nach dem mutterlande trugen die sänger den Homer als etwas
inhaltlich und formell neues, höchstens durch die von mund zu mund
gehende sage ein wenig vorbereitetes. das epos kam übers meer wie

31) Man hat auf grund der mundart vermutet, daſs auch Chios ursprünglich
aeolisch gewesen wäre. aber dafür liegt weder in der geschichte noch in der sage ein
anhalt vor. und der schluſs aus der sprache beruht auf einer verkennung des ge-
schichtlichen vorganges. die neuen stämme waren ja niemals vorher da gewesen,
sowol Aeoler wie Ionier bilden sich erst allmählich unter dem drucke besonderer
geschichtlicher factoren. zunächst war das mischungsverhältnis der bevölkerung aller-
orten verschieden, die geschichtlichen factoren waren verschieden und so ergaben sich
zunächst ganz verschiedene volks- und sprachtypen. eine sprachgrenze von aeolisch
und ionisch gab es also auch noch nicht; diese ward erst gezogen, als der zusammen-
schluſs der staatenbünde bestimmte kreise zog. gewiſs haben in Lesbos und Chios
mehr verwandte familien sich angesiedelt als in Lesbos und Milet, und hat auch in
Lesbos nicht nur eine unter sich verwandte bevölkerung gesessen: das spürt man
dann in den mundarten. die Chier würden unter der herrschaft der Mytilenaeer
oder in staatlicher gemeinschaft mit ihnen Aeoler haben werden können: in der
panionischen gemeinschaft sind sie Ionier geworden. aber hier liegt kein gewaltact
vor, sondern ein stilles organisches wachstum.
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[66/0086] Was ist eine attische tragödie? auch die Aeoler sind schon im niedergange, verlieren manche küsten- plätze 31) und sind in der cultur nunmehr die empfangenden. dennoch erkennen wir daſs es einst umgekehrt gewesen war. eben das epos, welches doch der lebendige ausdruck der ionischen suprematie ist, trägt die deutlichen spuren in form und inhalt davon, daſs es aus aeolischer wurzel stammt. aber freilich, die Ionier haben es aus ihrem geiste neu geboren; nur dem bewaffneten auge des forschers erscheinen die ein- zelnen fremden züge. und erst als ein ionisches, als Homers werk, hat das epos die culturmission übernommen, das mutterland wieder für das Hellenentum zu gewinnen. ist doch selbst Aeolien in den zauberbann des ionischen epos getreten. Hesiodos (wol um 700), der aus einer aeoli- schen familie stammte, und als hintersasse in dem boeotischen Askra zum dichter ward, hängt vollkommen von dem homerischen epos ab, seine stolzeste erinnerung ist, daſs er bei den leichenspielen eines fürsten in dem ionischen Chalkis den preis erhalten hat: und um 600 ist seine dichtung in Mytilene populär. Das ionische epos befand sich in den händen von beruſsmäſsigen sängern oder besser sprechern. wie alle griechische kunst, war auch der homerische stil das ergebnis langer handwerksmäſsiger übung, und nur wer ihn gelernt hatte, vermochte ihn zu üben. dichten und vortragen waren keine geschiedenen berufe. der stoff aber war volksmäſsig. denn auch die von den Aeolern entlehnten elemente waren es längst geworden. allein nach dem mutterlande trugen die sänger den Homer als etwas inhaltlich und formell neues, höchstens durch die von mund zu mund gehende sage ein wenig vorbereitetes. das epos kam übers meer wie 31) Man hat auf grund der mundart vermutet, daſs auch Chios ursprünglich aeolisch gewesen wäre. aber dafür liegt weder in der geschichte noch in der sage ein anhalt vor. und der schluſs aus der sprache beruht auf einer verkennung des ge- schichtlichen vorganges. die neuen stämme waren ja niemals vorher da gewesen, sowol Aeoler wie Ionier bilden sich erst allmählich unter dem drucke besonderer geschichtlicher factoren. zunächst war das mischungsverhältnis der bevölkerung aller- orten verschieden, die geschichtlichen factoren waren verschieden und so ergaben sich zunächst ganz verschiedene volks- und sprachtypen. eine sprachgrenze von aeolisch und ionisch gab es also auch noch nicht; diese ward erst gezogen, als der zusammen- schluſs der staatenbünde bestimmte kreise zog. gewiſs haben in Lesbos und Chios mehr verwandte familien sich angesiedelt als in Lesbos und Milet, und hat auch in Lesbos nicht nur eine unter sich verwandte bevölkerung gesessen: das spürt man dann in den mundarten. die Chier würden unter der herrschaft der Mytilenaeer oder in staatlicher gemeinschaft mit ihnen Aeoler haben werden können: in der panionischen gemeinschaft sind sie Ionier geworden. aber hier liegt kein gewaltact vor, sondern ein stilles organisches wachstum.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/86>, abgerufen am 18.04.2024.