Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

Bild:
<< vorherige Seite

dithyrambos. bildung der hellenischen nation in Asien.
auf der hand, dass sie gerade jene bezeichnende metrische freiheit nicht
besitzt, vielmehr mit den andern chorliedern gegen den dithyrambos
steht. das aber ist allerdings eben so offenkundig, dass die tragödie in
metrik und sprache, soweit sie chorlied ist, mit den andern chorliedern
zusammengeht. hier also bietet sich ein angriffspunkt. wenn wir die
art nicht mehr kennen, an die uns Aristoteles weist, so wenden wir uns
an die gattung. weit muss ausgeholt werden; es ist wol auch ein umweg:
aber ein holzweg ist es nicht.

Die völkerwanderung hatte die in der cultur vorgeschrittenen stämmeBildung der
helleni-
schen nation
in Asien.

teils unterjocht, teils aus dem lande getrieben. die zurückgebliebenen
waren hörige häusler untertanen geworden; eine selbständige entwickelung
war für sie unmöglich. ihre noch fast ganz barbarischen herren hatten
gleichwol viel bei ihnen zu lernen, so viel, dass es zu einer reinen ent-
faltung ihres eigenen wesens auch nicht kam. jahrhunderte waren nötig,
damit überhaupt die widerstrebenden elemente zu einem neuen volkstum
verschmolzen; und damit war doch nicht viel mehr erreicht, als dass der
boden für die aus dem osten zurückflutende cultur empfänglich gemacht
war, und auch das war nur in einem kleinen teile von Hellas der fall:
die ganze westküste ist der cultur so gut wie verloren geblieben. die
wenigen gegenden aber in welchen sich die alte bevölkerung behauptet
hatte, Euboia, Attika, die dryopische und saronische küste der Argolis,
waren einstmals die etappen für die auswanderung gewesen und jetzt
wieder die berufenen träger der vermittelung. hier nur konnte sich
eine stätte finden, wo sich alle lebensfähigen culturelemente zusammen-
finden und zu einer höheren wahrhaft nationalen cultur vereinigen und
steigern mochten.

In den durch harte kämpfe erworbenen neuen sitzen an der herr-
lichen asiatischen küste verwuchsen zunächst die hinübergeworfenen splitter
von stämmen und völkern zu neuen grösseren stammesgenossenschaften,
hier auch empfand man durch den gegensatz der barbaren zuerst die
verwandtschaft auch der ferneren glieder des gemeinsamen volkes, erhob
man sich ganz allmählich zu der erfassung des begriffes eines einigen
Hellenentums in race und cultur. zu der zeit, von welcher es zuerst
möglich ist, sich einigermassen ein bild zu machen, etwa vom achten
jahrhundert ab, ist der vorwaltende stamm der ionische, von seinen sitzen
an der mysischen lydischen karischen küste nicht nur nach norden und
süden übergreifend, sondern bereits die Propontis und fernere gestade
mit pflanzstädten besetzend. die süddorischen inseln haben die inner-
liche ionisirung bereits begonnen, vorbildlich für das mutterland; aber

v. Wilamowitz I. 5

dithyrambos. bildung der hellenischen nation in Asien.
auf der hand, daſs sie gerade jene bezeichnende metrische freiheit nicht
besitzt, vielmehr mit den andern chorliedern gegen den dithyrambos
steht. das aber ist allerdings eben so offenkundig, daſs die tragödie in
metrik und sprache, soweit sie chorlied ist, mit den andern chorliedern
zusammengeht. hier also bietet sich ein angriffspunkt. wenn wir die
art nicht mehr kennen, an die uns Aristoteles weist, so wenden wir uns
an die gattung. weit muſs ausgeholt werden; es ist wol auch ein umweg:
aber ein holzweg ist es nicht.

Die völkerwanderung hatte die in der cultur vorgeschrittenen stämmeBildung der
helleni-
schen nation
in Asien.

teils unterjocht, teils aus dem lande getrieben. die zurückgebliebenen
waren hörige häusler untertanen geworden; eine selbständige entwickelung
war für sie unmöglich. ihre noch fast ganz barbarischen herren hatten
gleichwol viel bei ihnen zu lernen, so viel, daſs es zu einer reinen ent-
faltung ihres eigenen wesens auch nicht kam. jahrhunderte waren nötig,
damit überhaupt die widerstrebenden elemente zu einem neuen volkstum
verschmolzen; und damit war doch nicht viel mehr erreicht, als daſs der
boden für die aus dem osten zurückflutende cultur empfänglich gemacht
war, und auch das war nur in einem kleinen teile von Hellas der fall:
die ganze westküste ist der cultur so gut wie verloren geblieben. die
wenigen gegenden aber in welchen sich die alte bevölkerung behauptet
hatte, Euboia, Attika, die dryopische und saronische küste der Argolis,
waren einstmals die etappen für die auswanderung gewesen und jetzt
wieder die berufenen träger der vermittelung. hier nur konnte sich
eine stätte finden, wo sich alle lebensfähigen culturelemente zusammen-
finden und zu einer höheren wahrhaft nationalen cultur vereinigen und
steigern mochten.

In den durch harte kämpfe erworbenen neuen sitzen an der herr-
lichen asiatischen küste verwuchsen zunächst die hinübergeworfenen splitter
von stämmen und völkern zu neuen gröſseren stammesgenossenschaften,
hier auch empfand man durch den gegensatz der barbaren zuerst die
verwandtschaft auch der ferneren glieder des gemeinsamen volkes, erhob
man sich ganz allmählich zu der erfassung des begriffes eines einigen
Hellenentums in race und cultur. zu der zeit, von welcher es zuerst
möglich ist, sich einigermaſsen ein bild zu machen, etwa vom achten
jahrhundert ab, ist der vorwaltende stamm der ionische, von seinen sitzen
an der mysischen lydischen karischen küste nicht nur nach norden und
süden übergreifend, sondern bereits die Propontis und fernere gestade
mit pflanzstädten besetzend. die süddorischen inseln haben die inner-
liche ionisirung bereits begonnen, vorbildlich für das mutterland; aber

v. Wilamowitz I. 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0085" n="65"/><fw place="top" type="header">dithyrambos. bildung der hellenischen nation in Asien.</fw><lb/>
auf der hand, da&#x017F;s sie gerade jene bezeichnende metrische freiheit nicht<lb/>
besitzt, vielmehr mit den andern chorliedern gegen den dithyrambos<lb/>
steht. das aber ist allerdings eben so offenkundig, da&#x017F;s die tragödie in<lb/>
metrik und sprache, soweit sie chorlied ist, mit den andern chorliedern<lb/>
zusammengeht. hier also bietet sich ein angriffspunkt. wenn wir die<lb/>
art nicht mehr kennen, an die uns Aristoteles weist, so wenden wir uns<lb/>
an die gattung. weit mu&#x017F;s ausgeholt werden; es ist wol auch ein umweg:<lb/>
aber ein holzweg ist es nicht.</p><lb/>
        <p>Die völkerwanderung hatte die in der cultur vorgeschrittenen stämme<note place="right">Bildung der<lb/>
helleni-<lb/>
schen nation<lb/>
in Asien.</note><lb/>
teils unterjocht, teils aus dem lande getrieben. die zurückgebliebenen<lb/>
waren hörige häusler untertanen geworden; eine selbständige entwickelung<lb/>
war für sie unmöglich. ihre noch fast ganz barbarischen herren hatten<lb/>
gleichwol viel bei ihnen zu lernen, so viel, da&#x017F;s es zu einer reinen ent-<lb/>
faltung ihres eigenen wesens auch nicht kam. jahrhunderte waren nötig,<lb/>
damit überhaupt die widerstrebenden elemente zu einem neuen volkstum<lb/>
verschmolzen; und damit war doch nicht viel mehr erreicht, als da&#x017F;s der<lb/>
boden für die aus dem osten zurückflutende cultur empfänglich gemacht<lb/>
war, und auch das war nur in einem kleinen teile von Hellas der fall:<lb/>
die ganze westküste ist der cultur so gut wie verloren geblieben. die<lb/>
wenigen gegenden aber in welchen sich die alte bevölkerung behauptet<lb/>
hatte, Euboia, Attika, die dryopische und saronische küste der Argolis,<lb/>
waren einstmals die etappen für die auswanderung gewesen und jetzt<lb/>
wieder die berufenen träger der vermittelung. hier nur konnte sich<lb/>
eine stätte finden, wo sich alle lebensfähigen culturelemente zusammen-<lb/>
finden und zu einer höheren wahrhaft nationalen cultur vereinigen und<lb/>
steigern mochten.</p><lb/>
        <p>In den durch harte kämpfe erworbenen neuen sitzen an der herr-<lb/>
lichen asiatischen küste verwuchsen zunächst die hinübergeworfenen splitter<lb/>
von stämmen und völkern zu neuen grö&#x017F;seren stammesgenossenschaften,<lb/>
hier auch empfand man durch den gegensatz der barbaren zuerst die<lb/>
verwandtschaft auch der ferneren glieder des gemeinsamen volkes, erhob<lb/>
man sich ganz allmählich zu der erfassung des begriffes eines einigen<lb/>
Hellenentums in race und cultur. zu der zeit, von welcher es zuerst<lb/>
möglich ist, sich einigerma&#x017F;sen ein bild zu machen, etwa vom achten<lb/>
jahrhundert ab, ist der vorwaltende stamm der ionische, von seinen sitzen<lb/>
an der mysischen lydischen karischen küste nicht nur nach norden und<lb/>
süden übergreifend, sondern bereits die Propontis und fernere gestade<lb/>
mit pflanzstädten besetzend. die süddorischen inseln haben die inner-<lb/>
liche ionisirung bereits begonnen, vorbildlich für das mutterland; aber<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">v. Wilamowitz I. 5</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[65/0085] dithyrambos. bildung der hellenischen nation in Asien. auf der hand, daſs sie gerade jene bezeichnende metrische freiheit nicht besitzt, vielmehr mit den andern chorliedern gegen den dithyrambos steht. das aber ist allerdings eben so offenkundig, daſs die tragödie in metrik und sprache, soweit sie chorlied ist, mit den andern chorliedern zusammengeht. hier also bietet sich ein angriffspunkt. wenn wir die art nicht mehr kennen, an die uns Aristoteles weist, so wenden wir uns an die gattung. weit muſs ausgeholt werden; es ist wol auch ein umweg: aber ein holzweg ist es nicht. Die völkerwanderung hatte die in der cultur vorgeschrittenen stämme teils unterjocht, teils aus dem lande getrieben. die zurückgebliebenen waren hörige häusler untertanen geworden; eine selbständige entwickelung war für sie unmöglich. ihre noch fast ganz barbarischen herren hatten gleichwol viel bei ihnen zu lernen, so viel, daſs es zu einer reinen ent- faltung ihres eigenen wesens auch nicht kam. jahrhunderte waren nötig, damit überhaupt die widerstrebenden elemente zu einem neuen volkstum verschmolzen; und damit war doch nicht viel mehr erreicht, als daſs der boden für die aus dem osten zurückflutende cultur empfänglich gemacht war, und auch das war nur in einem kleinen teile von Hellas der fall: die ganze westküste ist der cultur so gut wie verloren geblieben. die wenigen gegenden aber in welchen sich die alte bevölkerung behauptet hatte, Euboia, Attika, die dryopische und saronische küste der Argolis, waren einstmals die etappen für die auswanderung gewesen und jetzt wieder die berufenen träger der vermittelung. hier nur konnte sich eine stätte finden, wo sich alle lebensfähigen culturelemente zusammen- finden und zu einer höheren wahrhaft nationalen cultur vereinigen und steigern mochten. Bildung der helleni- schen nation in Asien. In den durch harte kämpfe erworbenen neuen sitzen an der herr- lichen asiatischen küste verwuchsen zunächst die hinübergeworfenen splitter von stämmen und völkern zu neuen gröſseren stammesgenossenschaften, hier auch empfand man durch den gegensatz der barbaren zuerst die verwandtschaft auch der ferneren glieder des gemeinsamen volkes, erhob man sich ganz allmählich zu der erfassung des begriffes eines einigen Hellenentums in race und cultur. zu der zeit, von welcher es zuerst möglich ist, sich einigermaſsen ein bild zu machen, etwa vom achten jahrhundert ab, ist der vorwaltende stamm der ionische, von seinen sitzen an der mysischen lydischen karischen küste nicht nur nach norden und süden übergreifend, sondern bereits die Propontis und fernere gestade mit pflanzstädten besetzend. die süddorischen inseln haben die inner- liche ionisirung bereits begonnen, vorbildlich für das mutterland; aber v. Wilamowitz I. 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/85
Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/85>, abgerufen am 19.04.2024.