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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Dionysosdienst. Eratosthenes.
versöhmung leben in mannigfachen umgestaltungen fort: die spiele mit
den puppen (daidala) auf dem Kithairon haben bestanden, als sie längst
läppisch geworden waren: aber zu machen war aus ihnen nichts. sollte
sich etwa aus solchen fratzen die tragödie entwickeln; d. h. sollte man
einmal statt Zeus und Hera Iason und Medeia spielen? nirgends ist
das mimische im cultus weiter getrieben als in dem drachenkampf des
pythischen Apollon. die musik hat das dankbare motiv aufgegriffen und
in immer neuen variationen mit immer reicherer instrumentirung durch-
geführt. aber ein ausgangspunkt für dramatisches spiel ist es nicht ge-
wordem und konnte es nicht werden. da nun im attischen Dionysos-
dienste auch nicht einmal eine ähnliche ceremonie existirt hat (oder
wollte man mit dem beilager des gottes und der basilinna rechnen?),
und nicht mehr existiren konnte, seit die gemeinde der gläubigen statt
der wenigen berufenen den gottesdienst betrieb, so ist diese herleitung
des dramas eine unmöglichkeit; wie sie denn auch den alten ganz fern
gelegem hat; wenigstens im ernste.

Allerdings hat Eratosthenes in der Erigone gedichtet, dass DionysosEratosthe-
nes.

die tragödie gewissermassen selbst gestiftet hätte. als er nämlich den Ika-
rios dem weinbau lehrte, frass ein bock die junge rebe an; zur strafe ward
er geschlachtet, und die Ikarier zogen ihm das fell ab, bliesen es auf und
machten sich den spass, zu versuchen wer auf dem aufgeblasenen schlauche
tanzen könnte; die meisten fielen ab und der sieger erhielt den schlauch
voll wein. daraus ist das attische kannenfest geworden, das der schluss der
Acharmer so deutlich darstellt. den braten aber erhielten die tänzer, welche
um ihm einen reigen zu ehren des gottes aufführten: diesen reigen nannte
man 'bocksgesang', und daraus ist die tragödie entstanden, welche ein Ika-
rier Thespis viele hundert jahre später in Attika verbreitet hat, auf dem
lande herumziehend, wie sein ahn Ikarios, der den weinbau verbreitete, das
gesicht mit hefe beschmiert, woraus das 'hefespiel' geworden ist, die tru-
godia, wie man in alter zeit die komödie genannt hat 22). da Eratosthenes
nur in zweiter linie dichter war, in seinem bedeutenden werke peri

22) Ob Eratosthenes diese etymologie von trux befolgt hat, die in den ein-
leitungem und scholien zu Aristophanes häufig ist, oder die von truge, weinlese
(Athen. II 40), kann zweifelhaft scheinen. allein truge für trugetos ist kein alt-
bezeugtes wort und dass die tradition in der komikererklärung auf den meister zu-
rückgeht, vorwiegend wahrscheinlich. übrigens ist das wort zwar von trux wirk-
lich abzuleiten, aber es ist nicht verständlich. wer es erklären will, muss auch die
'hefeteuffel' trugodaimones Ar. Wolk. 296 erklären. die reconstruction der Erigone
hat Maass Philol. Unters. VI Herm. 18 geliefert; so weit sie hier in betracht kommt,
ist sie sicher. eine bearbeitung von Eratosthenes peri komodias ist dringend nötig.

Dionysosdienst. Eratosthenes.
versöhmung leben in mannigfachen umgestaltungen fort: die spiele mit
den puppen (δαίδαλα) auf dem Kithairon haben bestanden, als sie längst
läppisch geworden waren: aber zu machen war aus ihnen nichts. sollte
sich etwa aus solchen fratzen die tragödie entwickeln; d. h. sollte man
einmal statt Zeus und Hera Iason und Medeia spielen? nirgends ist
das mimische im cultus weiter getrieben als in dem drachenkampf des
pythischen Apollon. die musik hat das dankbare motiv aufgegriffen und
in immer neuen variationen mit immer reicherer instrumentirung durch-
geführt. aber ein ausgangspunkt für dramatisches spiel ist es nicht ge-
wordem und konnte es nicht werden. da nun im attischen Dionysos-
dienste auch nicht einmal eine ähnliche ceremonie existirt hat (oder
wollte man mit dem beilager des gottes und der βασίλιννα rechnen?),
und nicht mehr existiren konnte, seit die gemeinde der gläubigen statt
der wenigen berufenen den gottesdienst betrieb, so ist diese herleitung
des dramas eine unmöglichkeit; wie sie denn auch den alten ganz fern
gelegem hat; wenigstens im ernste.

Allerdings hat Eratosthenes in der Erigone gedichtet, daſs DionysosEratosthe-
nes.

die tragödie gewissermaſsen selbst gestiftet hätte. als er nämlich den Ika-
rios dem weinbau lehrte, fraſs ein bock die junge rebe an; zur strafe ward
er geschlachtet, und die Ikarier zogen ihm das fell ab, bliesen es auf und
machten sich den spaſs, zu versuchen wer auf dem aufgeblasenen schlauche
tanzen könnte; die meisten fielen ab und der sieger erhielt den schlauch
voll wein. daraus ist das attische kannenfest geworden, das der schluſs der
Acharmer so deutlich darstellt. den braten aber erhielten die tänzer, welche
um ihm einen reigen zu ehren des gottes aufführten: diesen reigen nannte
man ‘bocksgesang’, und daraus ist die tragödie entstanden, welche ein Ika-
rier Thespis viele hundert jahre später in Attika verbreitet hat, auf dem
lande herumziehend, wie sein ahn Ikarios, der den weinbau verbreitete, das
gesicht mit hefe beschmiert, woraus das ‘hefespiel’ geworden ist, die τρυ-
γῳδία, wie man in alter zeit die komödie genannt hat 22). da Eratosthenes
nur in zweiter linie dichter war, in seinem bedeutenden werke περὶ

22) Ob Eratosthenes diese etymologie von τρύξ befolgt hat, die in den ein-
leitungem und scholien zu Aristophanes häufig ist, oder die von τρύγη, weinlese
(Athen. II 40), kann zweifelhaft scheinen. allein τρύγη für τρυγητός ist kein alt-
bezeugtes wort und daſs die tradition in der komikererklärung auf den meister zu-
rückgeht, vorwiegend wahrscheinlich. übrigens ist das wort zwar von τρύξ wirk-
lich abzuleiten, aber es ist nicht verständlich. wer es erklären will, muſs auch die
‘hefeteuffel’ τρυγοδαίμονες Ar. Wolk. 296 erklären. die reconstruction der Erigone
hat Maaſs Philol. Unters. VI Herm. 18 geliefert; so weit sie hier in betracht kommt,
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[61/0081] Dionysosdienst. Eratosthenes. versöhmung leben in mannigfachen umgestaltungen fort: die spiele mit den puppen (δαίδαλα) auf dem Kithairon haben bestanden, als sie längst läppisch geworden waren: aber zu machen war aus ihnen nichts. sollte sich etwa aus solchen fratzen die tragödie entwickeln; d. h. sollte man einmal statt Zeus und Hera Iason und Medeia spielen? nirgends ist das mimische im cultus weiter getrieben als in dem drachenkampf des pythischen Apollon. die musik hat das dankbare motiv aufgegriffen und in immer neuen variationen mit immer reicherer instrumentirung durch- geführt. aber ein ausgangspunkt für dramatisches spiel ist es nicht ge- wordem und konnte es nicht werden. da nun im attischen Dionysos- dienste auch nicht einmal eine ähnliche ceremonie existirt hat (oder wollte man mit dem beilager des gottes und der βασίλιννα rechnen?), und nicht mehr existiren konnte, seit die gemeinde der gläubigen statt der wenigen berufenen den gottesdienst betrieb, so ist diese herleitung des dramas eine unmöglichkeit; wie sie denn auch den alten ganz fern gelegem hat; wenigstens im ernste. Allerdings hat Eratosthenes in der Erigone gedichtet, daſs Dionysos die tragödie gewissermaſsen selbst gestiftet hätte. als er nämlich den Ika- rios dem weinbau lehrte, fraſs ein bock die junge rebe an; zur strafe ward er geschlachtet, und die Ikarier zogen ihm das fell ab, bliesen es auf und machten sich den spaſs, zu versuchen wer auf dem aufgeblasenen schlauche tanzen könnte; die meisten fielen ab und der sieger erhielt den schlauch voll wein. daraus ist das attische kannenfest geworden, das der schluſs der Acharmer so deutlich darstellt. den braten aber erhielten die tänzer, welche um ihm einen reigen zu ehren des gottes aufführten: diesen reigen nannte man ‘bocksgesang’, und daraus ist die tragödie entstanden, welche ein Ika- rier Thespis viele hundert jahre später in Attika verbreitet hat, auf dem lande herumziehend, wie sein ahn Ikarios, der den weinbau verbreitete, das gesicht mit hefe beschmiert, woraus das ‘hefespiel’ geworden ist, die τρυ- γῳδία, wie man in alter zeit die komödie genannt hat 22). da Eratosthenes nur in zweiter linie dichter war, in seinem bedeutenden werke περὶ Eratosthe- nes. 22) Ob Eratosthenes diese etymologie von τρύξ befolgt hat, die in den ein- leitungem und scholien zu Aristophanes häufig ist, oder die von τρύγη, weinlese (Athen. II 40), kann zweifelhaft scheinen. allein τρύγη für τρυγητός ist kein alt- bezeugtes wort und daſs die tradition in der komikererklärung auf den meister zu- rückgeht, vorwiegend wahrscheinlich. übrigens ist das wort zwar von τρύξ wirk- lich abzuleiten, aber es ist nicht verständlich. wer es erklären will, muſs auch die ‘hefeteuffel’ τρυγοδαίμονες Ar. Wolk. 296 erklären. die reconstruction der Erigone hat Maaſs Philol. Unters. VI Herm. 18 geliefert; so weit sie hier in betracht kommt, ist sie sicher. eine bearbeitung von Eratosthenes περὶ κωμῳδίας ist dringend nötig.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/81>, abgerufen am 18.04.2024.