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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Was ist eine attische tragödie?
wissen. der überfall der Titanen, die zerfleischung des Zagreus ist eine
orphische dichtung, die man sich hüten muss über das pisistratische
zeitalter hinauf zu datiren, und in den cultus hat sie nicht einmal zu
Eleusis zu irgend wie berücksichtigenswerter zeit eingang gefunden. ver-
wendbare überlieferungen von mimischer darstellung der Dionysostaten
gibt es nicht. das genügt eigentlich. aber es konnte auch nicht anders
sein. der gegensatz des Dionysosdienstes zu dem der olympischen götter,
der die beteiligung der gemeinde herbeiführte, schliesst solche vorstellungen
aus. gewiss haben in manchen culten bestimmte personen durch bestimmte
handlungen ein abbild einer heiligen geschichte geliefert. allein diese
mimischen darstellungen haben nicht an sich wert, sondern nur als sym-
bole, als ein augenfälliger ausdruck desselben gedankens oder derselben
empfindung, welche auch in der heiligen geschichte niedergelegt sind.
das dromenon und der logos bedingen sich nicht gegenseitig, sondern
sie stammen aus derselben wurzel, der religiösen empfindung. der mensch,
der sich zu der hohen culturstufe des ackersmanns erhoben hat, empfindet
eine innere scheu, den stier, seinen arbeitsgenossen, zu schlachten und zu
essen, den er doch als jäger und hirte ohne anstand getötet hatte, und
er kann und will doch den genuss des rindfleisches nicht entbehren.
wir mögen nur daran denken, dass wir unsere näherstehenden gefährten,
ross und hund, auch nicht essen mögen, und auch ein rind, das uns als
individuum wert geworden ist, schwerlich für unsern tisch schlachten
lassen möchten. aus diesem widerstreit der empfindungen entsteht der
ritus der Buphonien, die symbolische ceremonie, entsteht die geschichte
vom ersten rinderschlächter Thaulon, auf den die befleckung des mordes
abgewälzt wird. das erste ergibt allerdings ein dramatisches, wenn auch
stummes spiel, das andere eine legende. die legende kann sich nun
freilich von dem aition loslösen; sie kann als geschichte einen stoff-
lichen wert erhalten, die phantasie des volkes und der dichter kann sich
ihrer bemächtigen, sie weiterbilden, schliesslich so umgestalten, dass die
erinnerung an ehemalige symbolische bedeutung völlig verloren geht.
aber die symbolische handlung ist nicht entwickelungsfähig; wenn sie
nicht heilig ist, wird sie absurd. sie kann sich wol gemäss den wand-
lungen des religiösen empfindens umformen, wie es das opferritual getan
hat; allein der spielraum für diese entwickelung ist ein sehr beschränkter.
sie wird sich als eine leere form durch die macht des herkommens lange
zeiten behaupten. das ende aber ist in beiden fällen, dass einmal der
augenblick kommt, wo man sich eingesteht, dass eine leere schale nur
noch zum wegwerfen taugt. die geschichten von Heras eifersucht und

Was ist eine attische tragödie?
wissen. der überfall der Titanen, die zerfleischung des Zagreus ist eine
orphische dichtung, die man sich hüten muſs über das pisistratische
zeitalter hinauf zu datiren, und in den cultus hat sie nicht einmal zu
Eleusis zu irgend wie berücksichtigenswerter zeit eingang gefunden. ver-
wendbare überlieferungen von mimischer darstellung der Dionysostaten
gibt es nicht. das genügt eigentlich. aber es konnte auch nicht anders
sein. der gegensatz des Dionysosdienstes zu dem der olympischen götter,
der die beteiligung der gemeinde herbeiführte, schlieſst solche vorstellungen
aus. gewiſs haben in manchen culten bestimmte personen durch bestimmte
handlungen ein abbild einer heiligen geschichte geliefert. allein diese
mimischen darstellungen haben nicht an sich wert, sondern nur als sym-
bole, als ein augenfälliger ausdruck desselben gedankens oder derselben
empfindung, welche auch in der heiligen geschichte niedergelegt sind.
das δρώμενον und der λόγος bedingen sich nicht gegenseitig, sondern
sie stammen aus derselben wurzel, der religiösen empfindung. der mensch,
der sich zu der hohen culturstufe des ackersmanns erhoben hat, empfindet
eine innere scheu, den stier, seinen arbeitsgenossen, zu schlachten und zu
essen, den er doch als jäger und hirte ohne anstand getötet hatte, und
er kann und will doch den genuſs des rindfleisches nicht entbehren.
wir mögen nur daran denken, daſs wir unsere näherstehenden gefährten,
roſs und hund, auch nicht essen mögen, und auch ein rind, das uns als
individuum wert geworden ist, schwerlich für unsern tisch schlachten
lassen möchten. aus diesem widerstreit der empfindungen entsteht der
ritus der Buphonien, die symbolische ceremonie, entsteht die geschichte
vom ersten rinderschlächter Thaulon, auf den die befleckung des mordes
abgewälzt wird. das erste ergibt allerdings ein dramatisches, wenn auch
stummes spiel, das andere eine legende. die legende kann sich nun
freilich von dem αἴτιον loslösen; sie kann als geschichte einen stoff-
lichen wert erhalten, die phantasie des volkes und der dichter kann sich
ihrer bemächtigen, sie weiterbilden, schlieſslich so umgestalten, daſs die
erinnerung an ehemalige symbolische bedeutung völlig verloren geht.
aber die symbolische handlung ist nicht entwickelungsfähig; wenn sie
nicht heilig ist, wird sie absurd. sie kann sich wol gemäſs den wand-
lungen des religiösen empfindens umformen, wie es das opferritual getan
hat; allein der spielraum für diese entwickelung ist ein sehr beschränkter.
sie wird sich als eine leere form durch die macht des herkommens lange
zeiten behaupten. das ende aber ist in beiden fällen, daſs einmal der
augenblick kommt, wo man sich eingesteht, daſs eine leere schale nur
noch zum wegwerfen taugt. die geschichten von Heras eifersucht und

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[60/0080] Was ist eine attische tragödie? wissen. der überfall der Titanen, die zerfleischung des Zagreus ist eine orphische dichtung, die man sich hüten muſs über das pisistratische zeitalter hinauf zu datiren, und in den cultus hat sie nicht einmal zu Eleusis zu irgend wie berücksichtigenswerter zeit eingang gefunden. ver- wendbare überlieferungen von mimischer darstellung der Dionysostaten gibt es nicht. das genügt eigentlich. aber es konnte auch nicht anders sein. der gegensatz des Dionysosdienstes zu dem der olympischen götter, der die beteiligung der gemeinde herbeiführte, schlieſst solche vorstellungen aus. gewiſs haben in manchen culten bestimmte personen durch bestimmte handlungen ein abbild einer heiligen geschichte geliefert. allein diese mimischen darstellungen haben nicht an sich wert, sondern nur als sym- bole, als ein augenfälliger ausdruck desselben gedankens oder derselben empfindung, welche auch in der heiligen geschichte niedergelegt sind. das δρώμενον und der λόγος bedingen sich nicht gegenseitig, sondern sie stammen aus derselben wurzel, der religiösen empfindung. der mensch, der sich zu der hohen culturstufe des ackersmanns erhoben hat, empfindet eine innere scheu, den stier, seinen arbeitsgenossen, zu schlachten und zu essen, den er doch als jäger und hirte ohne anstand getötet hatte, und er kann und will doch den genuſs des rindfleisches nicht entbehren. wir mögen nur daran denken, daſs wir unsere näherstehenden gefährten, roſs und hund, auch nicht essen mögen, und auch ein rind, das uns als individuum wert geworden ist, schwerlich für unsern tisch schlachten lassen möchten. aus diesem widerstreit der empfindungen entsteht der ritus der Buphonien, die symbolische ceremonie, entsteht die geschichte vom ersten rinderschlächter Thaulon, auf den die befleckung des mordes abgewälzt wird. das erste ergibt allerdings ein dramatisches, wenn auch stummes spiel, das andere eine legende. die legende kann sich nun freilich von dem αἴτιον loslösen; sie kann als geschichte einen stoff- lichen wert erhalten, die phantasie des volkes und der dichter kann sich ihrer bemächtigen, sie weiterbilden, schlieſslich so umgestalten, daſs die erinnerung an ehemalige symbolische bedeutung völlig verloren geht. aber die symbolische handlung ist nicht entwickelungsfähig; wenn sie nicht heilig ist, wird sie absurd. sie kann sich wol gemäſs den wand- lungen des religiösen empfindens umformen, wie es das opferritual getan hat; allein der spielraum für diese entwickelung ist ein sehr beschränkter. sie wird sich als eine leere form durch die macht des herkommens lange zeiten behaupten. das ende aber ist in beiden fällen, daſs einmal der augenblick kommt, wo man sich eingesteht, daſs eine leere schale nur noch zum wegwerfen taugt. die geschichten von Heras eifersucht und

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/80>, abgerufen am 19.04.2024.