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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Was ist eine attische tragödie?
diesem gebiete die lehrmeister derer geworden sind, denen sie wie wir
alle andere cultur verdanken.

Wir wissen nicht, wie Epicharmos seine gedichte genannt hat; ko-
modiai sicher nicht, da sie das nicht waren. erst in Athen hat man dieses
wort sehr bald nach tragodia gebildet, als bezeichnung für die lieder,
welche bei den komoi gesungen wurden, die man um 465 dem Dionysos
von staatswegen darzubringen beschloss. denn so bezeichnet die offizielle
chronik die einführung der komödie. Aristoteles lässt uns noch etwas
mehr erkennen, und die reste der späteren komödie (denn erhalten hatte
sich wol nichts aus den ersten zwanzig jahren ihres bestehens 12) gestatten
sichere rückschlüsse. das volk ordnete und legitimirte nur einen tat-
sächlich bestehenden brauch. es war nämlich aufgekommen, dass an
dem feste des Dionysos eine oder auch mehrere scharen von männern
sich zusammentaten, sich vermummten, zunächst nur um unerkannt zu
bleiben, und im festzuge mit flötenmusik in den heiligen bezirk zogen, dem
gotte ein phalloslied sangen und das volk, das zu der religiösen feier
und zur tragödie versammelt war, mit einer auf die interessen der bürger-
schaft und des tages bezüglichen scheltrede haranguirten. dann zog der
lustige komos wieder ab. ähnliche züge, nur ohne den festlichen charakter,
tobten an manchem abend durch die gassen, aber der phalloszug war ein
notwendiger bestandteil der religiösen feier, weshalb denn auch das lied
(ode) welches der 'nachrede' (epirrema) vorausgeht, noch bei Aristo-
phanes meist einen religiösen charakter trägt. es ist sehr wol möglich, dass
schon in der zeit der freiwilligen aufführungen ein oder zwei einzelredner
aufgetreten sind und die gesänge durch eine lustige scene unterbrochen
haben. geschah es aber, so war dafür das vorbild der tragödie mass-
gebend, nach welchem dann, als die komödie staatlich geordnet ward, die
ganze anlage des spieles sich richtete. es dauerte noch eine weile, bis
man statt einzelner zusammenhangsloser scenen eine einzige handlung
durchzuführen versuchte. erst am anfange des archidamischen krieges
gestalteten zwei blutjunge talentvolle dichter, Eupolis und Aristophanes,
die komödie die wir kennen; zuerst sehen wir sie wenigstens den komos
und die ansprache sammt religiösem liede festhalten. dann schwindet das;

12) Wenigstens bietet weder ein titel noch ein bruchstück einen anhalt, der
über die dreissiger jahre hinaufzugehen veranlasste. es kommen ausser ein par
resten des Ekphantides, wenn auf sie verlass ist, und einer komödie des Lysippos
nur die des Krates und Kratinos in betracht. und dass bei diesem nichts verläss-
liches auf die so vielbewegten vierziger jahre deutet, während so sehr viele komö-
dien erst in den archidamischen krieg passen, ist schwerlich zufall.

Was ist eine attische tragödie?
diesem gebiete die lehrmeister derer geworden sind, denen sie wie wir
alle andere cultur verdanken.

Wir wissen nicht, wie Epicharmos seine gedichte genannt hat; κω-
μῳδίαι sicher nicht, da sie das nicht waren. erst in Athen hat man dieses
wort sehr bald nach τραγῳδία gebildet, als bezeichnung für die lieder,
welche bei den κῶμοι gesungen wurden, die man um 465 dem Dionysos
von staatswegen darzubringen beschloſs. denn so bezeichnet die offizielle
chronik die einführung der komödie. Aristoteles läſst uns noch etwas
mehr erkennen, und die reste der späteren komödie (denn erhalten hatte
sich wol nichts aus den ersten zwanzig jahren ihres bestehens 12) gestatten
sichere rückschlüsse. das volk ordnete und legitimirte nur einen tat-
sächlich bestehenden brauch. es war nämlich aufgekommen, daſs an
dem feste des Dionysos eine oder auch mehrere scharen von männern
sich zusammentaten, sich vermummten, zunächst nur um unerkannt zu
bleiben, und im festzuge mit flötenmusik in den heiligen bezirk zogen, dem
gotte ein phalloslied sangen und das volk, das zu der religiösen feier
und zur tragödie versammelt war, mit einer auf die interessen der bürger-
schaft und des tages bezüglichen scheltrede haranguirten. dann zog der
lustige κῶμος wieder ab. ähnliche züge, nur ohne den festlichen charakter,
tobten an manchem abend durch die gassen, aber der phalloszug war ein
notwendiger bestandteil der religiösen feier, weshalb denn auch das lied
(ᾠδή) welches der ‘nachrede’ (ἐπίρρημα) vorausgeht, noch bei Aristo-
phanes meist einen religiösen charakter trägt. es ist sehr wol möglich, daſs
schon in der zeit der freiwilligen aufführungen ein oder zwei einzelredner
aufgetreten sind und die gesänge durch eine lustige scene unterbrochen
haben. geschah es aber, so war dafür das vorbild der tragödie maſs-
gebend, nach welchem dann, als die komödie staatlich geordnet ward, die
ganze anlage des spieles sich richtete. es dauerte noch eine weile, bis
man statt einzelner zusammenhangsloser scenen eine einzige handlung
durchzuführen versuchte. erst am anfange des archidamischen krieges
gestalteten zwei blutjunge talentvolle dichter, Eupolis und Aristophanes,
die komödie die wir kennen; zuerst sehen wir sie wenigstens den komos
und die ansprache sammt religiösem liede festhalten. dann schwindet das;

12) Wenigstens bietet weder ein titel noch ein bruchstück einen anhalt, der
über die dreiſsiger jahre hinaufzugehen veranlaſste. es kommen auſser ein par
resten des Ekphantides, wenn auf sie verlaſs ist, und einer komödie des Lysippos
nur die des Krates und Kratinos in betracht. und daſs bei diesem nichts verläſs-
liches auf die so vielbewegten vierziger jahre deutet, während so sehr viele komö-
dien erst in den archidamischen krieg passen, ist schwerlich zufall.
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[54/0074] Was ist eine attische tragödie? diesem gebiete die lehrmeister derer geworden sind, denen sie wie wir alle andere cultur verdanken. Wir wissen nicht, wie Epicharmos seine gedichte genannt hat; κω- μῳδίαι sicher nicht, da sie das nicht waren. erst in Athen hat man dieses wort sehr bald nach τραγῳδία gebildet, als bezeichnung für die lieder, welche bei den κῶμοι gesungen wurden, die man um 465 dem Dionysos von staatswegen darzubringen beschloſs. denn so bezeichnet die offizielle chronik die einführung der komödie. Aristoteles läſst uns noch etwas mehr erkennen, und die reste der späteren komödie (denn erhalten hatte sich wol nichts aus den ersten zwanzig jahren ihres bestehens 12) gestatten sichere rückschlüsse. das volk ordnete und legitimirte nur einen tat- sächlich bestehenden brauch. es war nämlich aufgekommen, daſs an dem feste des Dionysos eine oder auch mehrere scharen von männern sich zusammentaten, sich vermummten, zunächst nur um unerkannt zu bleiben, und im festzuge mit flötenmusik in den heiligen bezirk zogen, dem gotte ein phalloslied sangen und das volk, das zu der religiösen feier und zur tragödie versammelt war, mit einer auf die interessen der bürger- schaft und des tages bezüglichen scheltrede haranguirten. dann zog der lustige κῶμος wieder ab. ähnliche züge, nur ohne den festlichen charakter, tobten an manchem abend durch die gassen, aber der phalloszug war ein notwendiger bestandteil der religiösen feier, weshalb denn auch das lied (ᾠδή) welches der ‘nachrede’ (ἐπίρρημα) vorausgeht, noch bei Aristo- phanes meist einen religiösen charakter trägt. es ist sehr wol möglich, daſs schon in der zeit der freiwilligen aufführungen ein oder zwei einzelredner aufgetreten sind und die gesänge durch eine lustige scene unterbrochen haben. geschah es aber, so war dafür das vorbild der tragödie maſs- gebend, nach welchem dann, als die komödie staatlich geordnet ward, die ganze anlage des spieles sich richtete. es dauerte noch eine weile, bis man statt einzelner zusammenhangsloser scenen eine einzige handlung durchzuführen versuchte. erst am anfange des archidamischen krieges gestalteten zwei blutjunge talentvolle dichter, Eupolis und Aristophanes, die komödie die wir kennen; zuerst sehen wir sie wenigstens den komos und die ansprache sammt religiösem liede festhalten. dann schwindet das; 12) Wenigstens bietet weder ein titel noch ein bruchstück einen anhalt, der über die dreiſsiger jahre hinaufzugehen veranlaſste. es kommen auſser ein par resten des Ekphantides, wenn auf sie verlaſs ist, und einer komödie des Lysippos nur die des Krates und Kratinos in betracht. und daſs bei diesem nichts verläſs- liches auf die so vielbewegten vierziger jahre deutet, während so sehr viele komö- dien erst in den archidamischen krieg passen, ist schwerlich zufall.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/74>, abgerufen am 28.03.2024.