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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Was ist eine attische tragödie?
trauerspiel und lustspiel nur als zwei arten derselben gattung, der dra-
matischen poesie, an. darin sind uns die peripatetiker vorangegangen,
und logisch ist es gewiss. nur hat es für Athen keinen sinn. dort konnte
zwar der grösste philosoph, zugleich der grösste dichter, auf den gedanken
dieser einheit kommen, aber selbst er liess es nur in der vorgerücktesten
weinlaune aussprechen. in der praxis waren komödie und tragödie zwei
so grundverschiedene dichtungsgattungen, dass es gleich ungeheuerlich
erschien, Aristophanes eine tragödie, Agathon eine komödie dichtend zu
denken; woran nichts geändert wird, auch wenn in den zeiten des verfalls
geringere leute diesen versuch gemacht haben, wie z. b. von Timokles
feststeht. für Athen ist das dramatische etwas accessorisches sowol in
der komödie wie in der tragödie. die übergeordnete gattung könnte nur
dionysisches festspiel heissen, wo dann aber sofort der dithyrambos als
dritte gleichberechtigte art hinzutreten und diesen versuch einer definition
unbrauchbar machen würde. für uns ist das dramatische entscheidend,
ist aber auch die sonderung in tragödie und komödie eine inhaltsleere
concession an die antike, welche nur zu der annahme von bastard-
gattungen wie des s. g. schauspieles oder dramas führt. wir wissen also
im voraus, dass wir zum ziele über die komödie nicht kommen können;
aber bei wege dürfte doch manche wichtige belehrung abfallen.

Komödie.

Die komödie hat sich an zwei orten Griechenlands aus verschiedenen
aber allerdings gleichermassen dem breiten volksleben angehörigen wurzeln
zu einer litterarischen blüte entwickelt. in Sicilien zu der zeit, wo diese
insel unter dem regimente hochstrebender und hochstehender gewaltherren
ihre schönste aber allzu kurze blütezeit erlebte, und in Athen zwanzig
jahre später, als dort die demokratie ihr reich vollendete. in Sicilien waren
die vorstufen die burlesken spiele der spassmacher, die wie die ganze
zunft der fahrenden leute in den üppigen städten Neugriechenlands fort-
dauernd am besten gediehen, und auf märkten oder in den hallen der
reichen teils pantomimisch, teils mit einfachem gesange, teils in meist
wol improvisirter prosaischer rede ein zerrbild des lebens darstellten,
das treiben des festtags und des werkeltags, der alter und geschlechter,
der stände und berufe in derber charakteristik wiedergebend. in Syrakus
gestaltete der Megarer Epicharmos dieses spiel zu einer dramatischen
poesie aus 10), für welche er jedoch die formen von der attischen tragödie

10) Die tendenz, den Megarern von Nisaia eine komödie zu vindiciren, hat
daran keinen anhalt, dass Epicharmos aus dem hybläischen war. und was die alten
von einem 'dorf' gesange fabeln könnte die attischen komoi nicht erzeugt haben, auch
wenn es mehr wäre als ein aus dem namen schlecht gefertigtes autoschediasma.

Was ist eine attische tragödie?
trauerspiel und lustspiel nur als zwei arten derselben gattung, der dra-
matischen poesie, an. darin sind uns die peripatetiker vorangegangen,
und logisch ist es gewiſs. nur hat es für Athen keinen sinn. dort konnte
zwar der gröſste philosoph, zugleich der gröſste dichter, auf den gedanken
dieser einheit kommen, aber selbst er lieſs es nur in der vorgerücktesten
weinlaune aussprechen. in der praxis waren komödie und tragödie zwei
so grundverschiedene dichtungsgattungen, daſs es gleich ungeheuerlich
erschien, Aristophanes eine tragödie, Agathon eine komödie dichtend zu
denken; woran nichts geändert wird, auch wenn in den zeiten des verfalls
geringere leute diesen versuch gemacht haben, wie z. b. von Timokles
feststeht. für Athen ist das dramatische etwas accessorisches sowol in
der komödie wie in der tragödie. die übergeordnete gattung könnte nur
dionysisches festspiel heiſsen, wo dann aber sofort der dithyrambos als
dritte gleichberechtigte art hinzutreten und diesen versuch einer definition
unbrauchbar machen würde. für uns ist das dramatische entscheidend,
ist aber auch die sonderung in tragödie und komödie eine inhaltsleere
concession an die antike, welche nur zu der annahme von bastard-
gattungen wie des s. g. schauspieles oder dramas führt. wir wissen also
im voraus, daſs wir zum ziele über die komödie nicht kommen können;
aber bei wege dürfte doch manche wichtige belehrung abfallen.

Komödie.

Die komödie hat sich an zwei orten Griechenlands aus verschiedenen
aber allerdings gleichermaſsen dem breiten volksleben angehörigen wurzeln
zu einer litterarischen blüte entwickelt. in Sicilien zu der zeit, wo diese
insel unter dem regimente hochstrebender und hochstehender gewaltherren
ihre schönste aber allzu kurze blütezeit erlebte, und in Athen zwanzig
jahre später, als dort die demokratie ihr reich vollendete. in Sicilien waren
die vorstufen die burlesken spiele der spaſsmacher, die wie die ganze
zunft der fahrenden leute in den üppigen städten Neugriechenlands fort-
dauernd am besten gediehen, und auf märkten oder in den hallen der
reichen teils pantomimisch, teils mit einfachem gesange, teils in meist
wol improvisirter prosaischer rede ein zerrbild des lebens darstellten,
das treiben des festtags und des werkeltags, der alter und geschlechter,
der stände und berufe in derber charakteristik wiedergebend. in Syrakus
gestaltete der Megarer Epicharmos dieses spiel zu einer dramatischen
poesie aus 10), für welche er jedoch die formen von der attischen tragödie

10) Die tendenz, den Megarern von Nisaia eine komödie zu vindiciren, hat
daran keinen anhalt, daſs Epicharmos aus dem hybläischen war. und was die alten
von einem ‘dorf’ gesange fabeln könnte die attischen κῶμοι nicht erzeugt haben, auch
wenn es mehr wäre als ein aus dem namen schlecht gefertigtes autoschediasma.
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[52/0072] Was ist eine attische tragödie? trauerspiel und lustspiel nur als zwei arten derselben gattung, der dra- matischen poesie, an. darin sind uns die peripatetiker vorangegangen, und logisch ist es gewiſs. nur hat es für Athen keinen sinn. dort konnte zwar der gröſste philosoph, zugleich der gröſste dichter, auf den gedanken dieser einheit kommen, aber selbst er lieſs es nur in der vorgerücktesten weinlaune aussprechen. in der praxis waren komödie und tragödie zwei so grundverschiedene dichtungsgattungen, daſs es gleich ungeheuerlich erschien, Aristophanes eine tragödie, Agathon eine komödie dichtend zu denken; woran nichts geändert wird, auch wenn in den zeiten des verfalls geringere leute diesen versuch gemacht haben, wie z. b. von Timokles feststeht. für Athen ist das dramatische etwas accessorisches sowol in der komödie wie in der tragödie. die übergeordnete gattung könnte nur dionysisches festspiel heiſsen, wo dann aber sofort der dithyrambos als dritte gleichberechtigte art hinzutreten und diesen versuch einer definition unbrauchbar machen würde. für uns ist das dramatische entscheidend, ist aber auch die sonderung in tragödie und komödie eine inhaltsleere concession an die antike, welche nur zu der annahme von bastard- gattungen wie des s. g. schauspieles oder dramas führt. wir wissen also im voraus, daſs wir zum ziele über die komödie nicht kommen können; aber bei wege dürfte doch manche wichtige belehrung abfallen. Die komödie hat sich an zwei orten Griechenlands aus verschiedenen aber allerdings gleichermaſsen dem breiten volksleben angehörigen wurzeln zu einer litterarischen blüte entwickelt. in Sicilien zu der zeit, wo diese insel unter dem regimente hochstrebender und hochstehender gewaltherren ihre schönste aber allzu kurze blütezeit erlebte, und in Athen zwanzig jahre später, als dort die demokratie ihr reich vollendete. in Sicilien waren die vorstufen die burlesken spiele der spaſsmacher, die wie die ganze zunft der fahrenden leute in den üppigen städten Neugriechenlands fort- dauernd am besten gediehen, und auf märkten oder in den hallen der reichen teils pantomimisch, teils mit einfachem gesange, teils in meist wol improvisirter prosaischer rede ein zerrbild des lebens darstellten, das treiben des festtags und des werkeltags, der alter und geschlechter, der stände und berufe in derber charakteristik wiedergebend. in Syrakus gestaltete der Megarer Epicharmos dieses spiel zu einer dramatischen poesie aus 10), für welche er jedoch die formen von der attischen tragödie 10) Die tendenz, den Megarern von Nisaia eine komödie zu vindiciren, hat daran keinen anhalt, daſs Epicharmos aus dem hybläischen war. und was die alten von einem ‘dorf’ gesange fabeln könnte die attischen κῶμοι nicht erzeugt haben, auch wenn es mehr wäre als ein aus dem namen schlecht gefertigtes autoschediasma.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/72>, abgerufen am 23.04.2024.