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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Was ist eine attische tragödie?
was durchaus berechtigt ist, und jedenfalls wenig auf das studium des-
selben eingewirkt. die philologie aber wandte sich unter dem drucke
der stimmung, welche der streit zwischen Hermann und Welcker Otfried
Müller erzeugte, von diesem felde ab. die bedeutenden gelehrten ver-
achteten was ihnen unfruchtbares spiel schien. in der breiten masse
aber wirken zu allen zeiten gedanken noch lange nach, wenn sie auch
in wahrheit überwunden sind. was so im allgemeinen über die attische
tragödie geglaubt, den knaben gepredigt und von diesen ins leben mit-
genommen wird, sind im wesentlichen reflexe dessen was Lessing und
Schiller, die romantiker und ihre philosophischen nachfolger ausgesprochen
haben. das letzte halbe jahrhundert hat wenig davon noch dazu getan.
wir hören ja freilich alle tage, dass die geisteswissenschaften abgewirt-
schaftet haben, wenn sie nicht die exacte methode der königin natur-
wissenschaft einigermassen nachmachen. und es ist auch von einer
zukunftspoetik die rede, welche empirisch psychologisch, empirisch an-
thropologisch die rechte grundlage sucht. es scheint aber für sie wich-
tiger zu sein, die Botokuden und Kamtschadalen zu verhören als die Hel-
lenen. wenn dem Mephistopheles schon in der classischen Walpurgisnacht
ungemütlich wird, was sollen die proktophantasmisten machen, die sich
längst von geistern und von geist curirt haben? wem die Orestie und
die poetik des Aristoteles -- griechisch sind, wie dem Casca Ciceros rede,
der muss es sich schon gefallen lassen, dass seine rede dem Hellenisten
böhmisch ist. welchen wert hätte es auch, ein system durch ein anderes
zu ersetzen, das doch auch nur beurteilen, nicht verstehen lehrt?

Aristoteles.

Verstehen gelernt hat freilich erst die letzte generation vor uns
ein hauptbuch, die aristotelische poetik, und der grosse meister hat über-
haupt erst jetzt die dominirende stellung in der griechischen wissenschaft
erhalten, die ihm gebürt, ja, seine macht wird noch steigen. allein darum
ist unser verhältnis zu ihm nur ein freieres geworden. es ist nicht mehr
erlaubt, mögen auch die naiven nicht aussterben, das was man für wahr
hält, in den Aristoteles hineinzulesen; deshalb ist aber auch das eigene
urteil des Aristoteles und seine aesthetische theorie nicht mehr für uns
massgebend. was er uns als geschichtliche tatsache übermittelt, das sind
wir verpflichtet als solche gelten zu lassen, so lange sich nicht der irrtum
beweisen lässt: die beurteilung der tatsachen und die daraus abgezogenen
allgemeinen gesetze haben nicht die geringste verbindlichkeit. Aristoteles
ist unser vorzüglichster zeuge für die tatsachen der attischen verfassungs-
geschichte; aber nicht leicht wird jemand seine beurteilung ihres ganges
und des wertes der leitenden personen sich zu eigen machen: auf alle fälle

Was ist eine attische tragödie?
was durchaus berechtigt ist, und jedenfalls wenig auf das studium des-
selben eingewirkt. die philologie aber wandte sich unter dem drucke
der stimmung, welche der streit zwischen Hermann und Welcker Otfried
Müller erzeugte, von diesem felde ab. die bedeutenden gelehrten ver-
achteten was ihnen unfruchtbares spiel schien. in der breiten masse
aber wirken zu allen zeiten gedanken noch lange nach, wenn sie auch
in wahrheit überwunden sind. was so im allgemeinen über die attische
tragödie geglaubt, den knaben gepredigt und von diesen ins leben mit-
genommen wird, sind im wesentlichen reflexe dessen was Lessing und
Schiller, die romantiker und ihre philosophischen nachfolger ausgesprochen
haben. das letzte halbe jahrhundert hat wenig davon noch dazu getan.
wir hören ja freilich alle tage, daſs die geisteswissenschaften abgewirt-
schaftet haben, wenn sie nicht die exacte methode der königin natur-
wissenschaft einigermaſsen nachmachen. und es ist auch von einer
zukunftspoetik die rede, welche empirisch psychologisch, empirisch an-
thropologisch die rechte grundlage sucht. es scheint aber für sie wich-
tiger zu sein, die Botokuden und Kamtschadalen zu verhören als die Hel-
lenen. wenn dem Mephistopheles schon in der classischen Walpurgisnacht
ungemütlich wird, was sollen die proktophantasmisten machen, die sich
längst von geistern und von geist curirt haben? wem die Orestie und
die poetik des Aristoteles — griechisch sind, wie dem Casca Ciceros rede,
der muſs es sich schon gefallen lassen, daſs seine rede dem Hellenisten
böhmisch ist. welchen wert hätte es auch, ein system durch ein anderes
zu ersetzen, das doch auch nur beurteilen, nicht verstehen lehrt?

Aristoteles.

Verstehen gelernt hat freilich erst die letzte generation vor uns
ein hauptbuch, die aristotelische poetik, und der groſse meister hat über-
haupt erst jetzt die dominirende stellung in der griechischen wissenschaft
erhalten, die ihm gebürt, ja, seine macht wird noch steigen. allein darum
ist unser verhältnis zu ihm nur ein freieres geworden. es ist nicht mehr
erlaubt, mögen auch die naiven nicht aussterben, das was man für wahr
hält, in den Aristoteles hineinzulesen; deshalb ist aber auch das eigene
urteil des Aristoteles und seine aesthetische theorie nicht mehr für uns
maſsgebend. was er uns als geschichtliche tatsache übermittelt, das sind
wir verpflichtet als solche gelten zu lassen, so lange sich nicht der irrtum
beweisen läſst: die beurteilung der tatsachen und die daraus abgezogenen
allgemeinen gesetze haben nicht die geringste verbindlichkeit. Aristoteles
ist unser vorzüglichster zeuge für die tatsachen der attischen verfassungs-
geschichte; aber nicht leicht wird jemand seine beurteilung ihres ganges
und des wertes der leitenden personen sich zu eigen machen: auf alle fälle

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[48/0068] Was ist eine attische tragödie? was durchaus berechtigt ist, und jedenfalls wenig auf das studium des- selben eingewirkt. die philologie aber wandte sich unter dem drucke der stimmung, welche der streit zwischen Hermann und Welcker Otfried Müller erzeugte, von diesem felde ab. die bedeutenden gelehrten ver- achteten was ihnen unfruchtbares spiel schien. in der breiten masse aber wirken zu allen zeiten gedanken noch lange nach, wenn sie auch in wahrheit überwunden sind. was so im allgemeinen über die attische tragödie geglaubt, den knaben gepredigt und von diesen ins leben mit- genommen wird, sind im wesentlichen reflexe dessen was Lessing und Schiller, die romantiker und ihre philosophischen nachfolger ausgesprochen haben. das letzte halbe jahrhundert hat wenig davon noch dazu getan. wir hören ja freilich alle tage, daſs die geisteswissenschaften abgewirt- schaftet haben, wenn sie nicht die exacte methode der königin natur- wissenschaft einigermaſsen nachmachen. und es ist auch von einer zukunftspoetik die rede, welche empirisch psychologisch, empirisch an- thropologisch die rechte grundlage sucht. es scheint aber für sie wich- tiger zu sein, die Botokuden und Kamtschadalen zu verhören als die Hel- lenen. wenn dem Mephistopheles schon in der classischen Walpurgisnacht ungemütlich wird, was sollen die proktophantasmisten machen, die sich längst von geistern und von geist curirt haben? wem die Orestie und die poetik des Aristoteles — griechisch sind, wie dem Casca Ciceros rede, der muſs es sich schon gefallen lassen, daſs seine rede dem Hellenisten böhmisch ist. welchen wert hätte es auch, ein system durch ein anderes zu ersetzen, das doch auch nur beurteilen, nicht verstehen lehrt? Verstehen gelernt hat freilich erst die letzte generation vor uns ein hauptbuch, die aristotelische poetik, und der groſse meister hat über- haupt erst jetzt die dominirende stellung in der griechischen wissenschaft erhalten, die ihm gebürt, ja, seine macht wird noch steigen. allein darum ist unser verhältnis zu ihm nur ein freieres geworden. es ist nicht mehr erlaubt, mögen auch die naiven nicht aussterben, das was man für wahr hält, in den Aristoteles hineinzulesen; deshalb ist aber auch das eigene urteil des Aristoteles und seine aesthetische theorie nicht mehr für uns maſsgebend. was er uns als geschichtliche tatsache übermittelt, das sind wir verpflichtet als solche gelten zu lassen, so lange sich nicht der irrtum beweisen läſst: die beurteilung der tatsachen und die daraus abgezogenen allgemeinen gesetze haben nicht die geringste verbindlichkeit. Aristoteles ist unser vorzüglichster zeuge für die tatsachen der attischen verfassungs- geschichte; aber nicht leicht wird jemand seine beurteilung ihres ganges und des wertes der leitenden personen sich zu eigen machen: auf alle fälle

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/68>, abgerufen am 19.04.2024.