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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Moderne aesthetik.
sein, dass er die hetze gegen Euripides nicht mitgemacht hat, aber wenn
er seine gedichte 'von dem morgenrot einer ahndungsvollen romantik
übergossen' nennt, wobei er 'vornehmlich an die wundersame Helene
denkt', wenn er die taurische Iphigenie und die Elektra 'seltsam von wald-
gefühl und einsamkeit erfrischt' findet (bei F. v. Raumer Vorlesungen
über alte Geschichte II 544), so gibt er selbst die seltsamsten proben
ahndungsvoller romantik. er hat sich bekanntlich in der beurteilung
Ophelias eben so vergriffen, wo es minder verzeihlich war, da Wilhelm
Meister vorlag. bei andern romantikern, die wol eher die fähigkeit des
geschichtlichen nachempfindens besessen hätten, fehlte es am besten.
F. Schlegel würde wol die euripideischen frauen in den irrgängen ihrer
seelenkrankheit haben verfolgen können, und er hatte für den grossen
zug der entwickelung, der die griechische poesie von stufe zu stufe bis
auf den gipfel aischyleischer erhabenheit trägt, einen helleren blick als
sein bruder. aber er war ein zu verkommener selbstling ohne religion
und ohne ehrgefühl 3): wie sollte er nicht schaudern vor der unerbitt-
lichen sittlichkeit dieser poesie, die sein ganzes treiben verurteilte; hat
er doch Schiller aus demselben grunde so glühend gehasst. auch die
weltumfassende philosophie gieng aus der romantik hervor, die es sich
zutraute, wissenschaft leben und kunst (theorein prattein poiein) mit
ihren gedanken zu umspannen und alle scheinbaren widersprüche zu
lösen. sie fand auch für das drama eine formel, und man soll nicht
bestreiten, dass viele und tiefe wahrheit in ihr lag. aber selbst die Antigone
muss arg misdeutet werden, um als musterstück den Oedipus zu ersetzen
und darzutun, wie sich aus dem conflicte zweier einseitig berechtigter
bestrebungen die höhere harmonie, wenn auch um den preis des unter-
ganges der individuen, ergibt.

Es könnte scheinen, als hätte es geringe bedeutung, auf diese be-
strebungen hinzuweisen, da doch die herrschaft der romantik und der hegel-
schen philosophie nicht mehr besteht. allein das philosophische denken der
folgezeit hat an die erkenntnis des antiken dramas wenig arbeit gewandt 4),

3) homo longe omnium pessimus nennt ihn G. Hermann an Volkmann 1. August
1796. da war Schlegel an den rechten gekommen.
4) Fr. Vischer hat daran ganz recht getan, dass er Shakespeare in den mittel-
punkt gestellt hat. seine individualität zog ihn von Athen fort: wer Pandora nicht
zu würdigen weiss, wird auch Prometheus nicht würdigen. es ist doch eine arge
verirrung, die upotheseis von tragödien in epische erzählungen umzusetzen, wie es
Vischer gar mit dem Oidipus auf Kolonos getan hat: und doch zeigt sich hier, dass
auf den kernmenschen, den sarkasmopituokamptes, der kern des dramas am mäch-
tigsten gewirkt hat, die sage.

Moderne aesthetik.
sein, daſs er die hetze gegen Euripides nicht mitgemacht hat, aber wenn
er seine gedichte ‘von dem morgenrot einer ahndungsvollen romantik
übergossen’ nennt, wobei er ‘vornehmlich an die wundersame Helene
denkt’, wenn er die taurische Iphigenie und die Elektra ‘seltsam von wald-
gefühl und einsamkeit erfrischt’ findet (bei F. v. Raumer Vorlesungen
über alte Geschichte II 544), so gibt er selbst die seltsamsten proben
ahndungsvoller romantik. er hat sich bekanntlich in der beurteilung
Ophelias eben so vergriffen, wo es minder verzeihlich war, da Wilhelm
Meister vorlag. bei andern romantikern, die wol eher die fähigkeit des
geschichtlichen nachempfindens besessen hätten, fehlte es am besten.
F. Schlegel würde wol die euripideischen frauen in den irrgängen ihrer
seelenkrankheit haben verfolgen können, und er hatte für den groſsen
zug der entwickelung, der die griechische poesie von stufe zu stufe bis
auf den gipfel aischyleischer erhabenheit trägt, einen helleren blick als
sein bruder. aber er war ein zu verkommener selbstling ohne religion
und ohne ehrgefühl 3): wie sollte er nicht schaudern vor der unerbitt-
lichen sittlichkeit dieser poesie, die sein ganzes treiben verurteilte; hat
er doch Schiller aus demselben grunde so glühend gehaſst. auch die
weltumfassende philosophie gieng aus der romantik hervor, die es sich
zutraute, wissenschaft leben und kunst (ϑεωρεῖν πράττειν ποιεῖν) mit
ihren gedanken zu umspannen und alle scheinbaren widersprüche zu
lösen. sie fand auch für das drama eine formel, und man soll nicht
bestreiten, daſs viele und tiefe wahrheit in ihr lag. aber selbst die Antigone
muſs arg misdeutet werden, um als musterstück den Oedipus zu ersetzen
und darzutun, wie sich aus dem conflicte zweier einseitig berechtigter
bestrebungen die höhere harmonie, wenn auch um den preis des unter-
ganges der individuen, ergibt.

Es könnte scheinen, als hätte es geringe bedeutung, auf diese be-
strebungen hinzuweisen, da doch die herrschaft der romantik und der hegel-
schen philosophie nicht mehr besteht. allein das philosophische denken der
folgezeit hat an die erkenntnis des antiken dramas wenig arbeit gewandt 4),

3) homo longe omnium pessimus nennt ihn G. Hermann an Volkmann 1. August
1796. da war Schlegel an den rechten gekommen.
4) Fr. Vischer hat daran ganz recht getan, daſs er Shakespeare in den mittel-
punkt gestellt hat. seine individualität zog ihn von Athen fort: wer Pandora nicht
zu würdigen weiſs, wird auch Prometheus nicht würdigen. es ist doch eine arge
verirrung, die ὑποϑέσεις von tragödien in epische erzählungen umzusetzen, wie es
Vischer gar mit dem Oidipus auf Kolonos getan hat: und doch zeigt sich hier, daſs
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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/67>, abgerufen am 25.04.2024.