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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Der Herakles des Euripides.
an tiefe und innerer bedeutsamkeit weder dem des Euripides noch dem
der sage auch nur von ferne vergleichbar. das soll er aber auch gar nicht.
Sophokles handelt wie der ionische epiker, dessen werk ihm mindestens sehr
viel von seinem stoffe gab. er gibt weder den universellen noch den natio-
nalen heros, sondern einen heros, wie es viele gibt. mit bedacht ist des-
halb, wo nicht der anschluss an die sage oder auch an Euripides irre führte,
die beziehung des Herakles zu Hellas und zur ganzen welt zurückgedrängt,
und die tragödie in das einzelne haus und die familie verlegt. dabei hat
Herakles verloren. der sophokleische wird nur dem imponiren, der a
priori vor allem sophokleischen in bewunderung erstirbt. dagegen ist es
auch hier dem Sophokles gelungen, unser lebhaftestes interesse zu fesseln,
indem er eine figur aus dem zweiten in den ersten rang zog, der er
dann in der individuellen beschränkung ein wahrhaft menschliches leben
verlieh. Deianeira macht die Trachinierinnen zu einem des Sophokles
würdigen gedichte, da schafft er mit liebe aus dem vollen, und dieser
partieen soll man sich freuen, ohne zu schelten, dass das drama nur
kümmerlich durch orakelsprüche zu einer äusserlichen einheit zusammen-
gehalten wird, dass der zweite teil an sich keinen hohen wert hat, und
dass von Herakles und seinen taten wirklich nur noch die namen übrig
geblieben sind. nur würde man Sophokles schweres unrecht tun, wenn
man seine dichterkraft nach solchen werken schätzen wollte, wo er nicht
am mythos selber neuschaffende hand anlegt, sondern in dem vorsuchen
und in der ausarbeitung zurückgestellter nebenmotive ein vorläufer der
alexandrinischen epik ist.

Für die gestaltung der geschichte von Herakles, die als die allgemein
giltige die ganze folgezeit beherrscht, haben die Trachinierinnen erfolg
gehabt, nicht bloss in ihren trefflichen teilen, sondern auch für Herakles.
das war nicht zu verwundern. die folgezeit empfieng die meisten sagen
in der tragisch umgeformten gestalt, weil die tragiker die letzten grossen
sagendichter gewesen waren. in der Heraklessage hatten sie nicht viel
geleistet, um so fester hielt man das wenige. das gleiche gilt von dem
Herakles des Euripides, doch mit wesentlicher einschränkung. seine grossen
neuerungen, die ansetzung des kindermordes am ende des lebens und die
einführung des Theseus, sind mit der fülle der Heraklessagen, mit dem
dodekathlos und dem oetäischen kreise unvereinbar. sie mussten also beide
aufgegeben werden, wenigstens wenn man das ganze leben erzählte; in

anders werden (d. h. Zeus wird Herakles in den himmel nehmen), wie es hier aber
sich darstellt, haben wir die trauer, Zeus die schande davon, und Herakles muss elend
sterben'. was dann der chor mit dem schlusswort berichtigt.

Der Herakles des Euripides.
an tiefe und innerer bedeutsamkeit weder dem des Euripides noch dem
der sage auch nur von ferne vergleichbar. das soll er aber auch gar nicht.
Sophokles handelt wie der ionische epiker, dessen werk ihm mindestens sehr
viel von seinem stoffe gab. er gibt weder den universellen noch den natio-
nalen heros, sondern einen heros, wie es viele gibt. mit bedacht ist des-
halb, wo nicht der anschluſs an die sage oder auch an Euripides irre führte,
die beziehung des Herakles zu Hellas und zur ganzen welt zurückgedrängt,
und die tragödie in das einzelne haus und die familie verlegt. dabei hat
Herakles verloren. der sophokleische wird nur dem imponiren, der a
priori vor allem sophokleischen in bewunderung erstirbt. dagegen ist es
auch hier dem Sophokles gelungen, unser lebhaftestes interesse zu fesseln,
indem er eine figur aus dem zweiten in den ersten rang zog, der er
dann in der individuellen beschränkung ein wahrhaft menschliches leben
verlieh. Deianeira macht die Trachinierinnen zu einem des Sophokles
würdigen gedichte, da schafft er mit liebe aus dem vollen, und dieser
partieen soll man sich freuen, ohne zu schelten, daſs das drama nur
kümmerlich durch orakelsprüche zu einer äuſserlichen einheit zusammen-
gehalten wird, daſs der zweite teil an sich keinen hohen wert hat, und
daſs von Herakles und seinen taten wirklich nur noch die namen übrig
geblieben sind. nur würde man Sophokles schweres unrecht tun, wenn
man seine dichterkraft nach solchen werken schätzen wollte, wo er nicht
am mythos selber neuschaffende hand anlegt, sondern in dem vorsuchen
und in der ausarbeitung zurückgestellter nebenmotive ein vorläufer der
alexandrinischen epik ist.

Für die gestaltung der geschichte von Herakles, die als die allgemein
giltige die ganze folgezeit beherrscht, haben die Trachinierinnen erfolg
gehabt, nicht bloſs in ihren trefflichen teilen, sondern auch für Herakles.
das war nicht zu verwundern. die folgezeit empfieng die meisten sagen
in der tragisch umgeformten gestalt, weil die tragiker die letzten groſsen
sagendichter gewesen waren. in der Heraklessage hatten sie nicht viel
geleistet, um so fester hielt man das wenige. das gleiche gilt von dem
Herakles des Euripides, doch mit wesentlicher einschränkung. seine groſsen
neuerungen, die ansetzung des kindermordes am ende des lebens und die
einführung des Theseus, sind mit der fülle der Heraklessagen, mit dem
dodekathlos und dem oetäischen kreise unvereinbar. sie muſsten also beide
aufgegeben werden, wenigstens wenn man das ganze leben erzählte; in

anders werden (d. h. Zeus wird Herakles in den himmel nehmen), wie es hier aber
sich darstellt, haben wir die trauer, Zeus die schande davon, und Herakles muſs elend
sterben’. was dann der chor mit dem schluſswort berichtigt.
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[384/0404] Der Herakles des Euripides. an tiefe und innerer bedeutsamkeit weder dem des Euripides noch dem der sage auch nur von ferne vergleichbar. das soll er aber auch gar nicht. Sophokles handelt wie der ionische epiker, dessen werk ihm mindestens sehr viel von seinem stoffe gab. er gibt weder den universellen noch den natio- nalen heros, sondern einen heros, wie es viele gibt. mit bedacht ist des- halb, wo nicht der anschluſs an die sage oder auch an Euripides irre führte, die beziehung des Herakles zu Hellas und zur ganzen welt zurückgedrängt, und die tragödie in das einzelne haus und die familie verlegt. dabei hat Herakles verloren. der sophokleische wird nur dem imponiren, der a priori vor allem sophokleischen in bewunderung erstirbt. dagegen ist es auch hier dem Sophokles gelungen, unser lebhaftestes interesse zu fesseln, indem er eine figur aus dem zweiten in den ersten rang zog, der er dann in der individuellen beschränkung ein wahrhaft menschliches leben verlieh. Deianeira macht die Trachinierinnen zu einem des Sophokles würdigen gedichte, da schafft er mit liebe aus dem vollen, und dieser partieen soll man sich freuen, ohne zu schelten, daſs das drama nur kümmerlich durch orakelsprüche zu einer äuſserlichen einheit zusammen- gehalten wird, daſs der zweite teil an sich keinen hohen wert hat, und daſs von Herakles und seinen taten wirklich nur noch die namen übrig geblieben sind. nur würde man Sophokles schweres unrecht tun, wenn man seine dichterkraft nach solchen werken schätzen wollte, wo er nicht am mythos selber neuschaffende hand anlegt, sondern in dem vorsuchen und in der ausarbeitung zurückgestellter nebenmotive ein vorläufer der alexandrinischen epik ist. Für die gestaltung der geschichte von Herakles, die als die allgemein giltige die ganze folgezeit beherrscht, haben die Trachinierinnen erfolg gehabt, nicht bloſs in ihren trefflichen teilen, sondern auch für Herakles. das war nicht zu verwundern. die folgezeit empfieng die meisten sagen in der tragisch umgeformten gestalt, weil die tragiker die letzten groſsen sagendichter gewesen waren. in der Heraklessage hatten sie nicht viel geleistet, um so fester hielt man das wenige. das gleiche gilt von dem Herakles des Euripides, doch mit wesentlicher einschränkung. seine groſsen neuerungen, die ansetzung des kindermordes am ende des lebens und die einführung des Theseus, sind mit der fülle der Heraklessagen, mit dem dodekathlos und dem oetäischen kreise unvereinbar. sie muſsten also beide aufgegeben werden, wenigstens wenn man das ganze leben erzählte; in 62) 62) anders werden (d. h. Zeus wird Herakles in den himmel nehmen), wie es hier aber sich darstellt, haben wir die trauer, Zeus die schande davon, und Herakles muſs elend sterben’. was dann der chor mit dem schluſswort berichtigt.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 384. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/404>, abgerufen am 23.04.2024.