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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Gehalt des dramas.
gewesen als er. ganz individuelles hat er eingemischt, ganz conventio-
nelles hat er beibehalten. ohne zweifel ist der eindruck nicht rein und
nicht einheitlich, den das kunstwerk macht. das merkt man nur um so
besser, wenn man das einzelne versteht; aber hat er einen reinen ein-
druck erzielen wollen? in der seelenstimmung, welche aus der letzten
rede spricht, wird ein dichter eher die disharmonie suchen. vielleicht
hat Euripides das getan.

Da stehen wir schliesslich doch an einem punkte, wo nur eine kenntnis
der intimsten lebensschicksale aufklärung geben könnte, wo also vielleicht
selbst dann kein wissenschaftliches ergebnis möglich wäre, wenn uns das
datum der aufführung des Herakles bekannt, und die schätze der alexan-
drinischen bibliothek erhalten wären. um so mehr wird man sich vor
einem raschen und nur zu billigen gesammturteil hüten. wol aber lässt
sich eines erkennen. die letzte rede des Theseus verträgt sich eigentlich
nicht mit dem motive der freundschaft, und nicht gern wird man sich
damit helfen, dass Euripides die polemik des Xenophanes aufgenommen
hätte, ohne ihr eine andere als dialektische bedeutsamkeit geben zu
wollen. so hat sich in den versöhnenden schluss ein bitteres neues
moment eingedrängt, unwillkürlich, aus der scelenstimmung des dichters
heraus. das gelöbnis egkartereso bioton stimmt wunderbar zu dem
gelöbnis ou pausomai tas Kharitas. man glaubt zu empfinden, wie
dem dichter eine bittere erfahrung leben und poesie verleiden will, er aber
sich gewaltsam aufrafft, auch in sich den menschenadel findet, duldend
auszuharren, obwol ihn das leben eine sclaverei der tukhe dünkt, nur dass
ihm der dichterberuf kraft verleiht, weil ihm der gott gab zu sagen was
er leidet. und in der tat, wer seine tätigkeit in seinem greisenalter über-
blickt, ihre fieberhafte hast, ihre friedlosigkeit, die verbitterte, welt und
menschen verachtende stimmung, und daneben die einzige freude eben
an der poetischen und, was für ihn dasselbe ist, der philosophischen tätig-
keit, der kann sichs gar wol so vorstellen, dass er das gelöbnis erfüllt,
das er im Herakles gegeben hat, erfüllt bis zum letzten atemzuge, in
den Bakchen alle die wilden geister vorführend, die ihn in dem rasenden
taumel hielten, und von denen er sich in der neuen umgebung dadurch
los zu machen suchte, dass er sie verkörperte54), und doch von den Musen

54) Dies der sinn der Bakchen. es kann niemand den Euripides ärger ver-
kennen, als wenn er in ihnen eine bekehrung zum glauben der alten weiber sieht.
Teiresias ist mit nichten der träger seiner ideen, und Dionysos, der so grausam an
Pentheus sich rächt, ist mit nichten sein gott. er dramatisirt diesen mythos, führt
die in ihm liegenden conflicte durch: ihm gehört nur die stimmung an, das gefühl
des friedens nach den orgien und durch die orgien.

Gehalt des dramas.
gewesen als er. ganz individuelles hat er eingemischt, ganz conventio-
nelles hat er beibehalten. ohne zweifel ist der eindruck nicht rein und
nicht einheitlich, den das kunstwerk macht. das merkt man nur um so
besser, wenn man das einzelne versteht; aber hat er einen reinen ein-
druck erzielen wollen? in der seelenstimmung, welche aus der letzten
rede spricht, wird ein dichter eher die disharmonie suchen. vielleicht
hat Euripides das getan.

Da stehen wir schlieſslich doch an einem punkte, wo nur eine kenntnis
der intimsten lebensschicksale aufklärung geben könnte, wo also vielleicht
selbst dann kein wissenschaftliches ergebnis möglich wäre, wenn uns das
datum der aufführung des Herakles bekannt, und die schätze der alexan-
drinischen bibliothek erhalten wären. um so mehr wird man sich vor
einem raschen und nur zu billigen gesammturteil hüten. wol aber läſst
sich eines erkennen. die letzte rede des Theseus verträgt sich eigentlich
nicht mit dem motive der freundschaft, und nicht gern wird man sich
damit helfen, daſs Euripides die polemik des Xenophanes aufgenommen
hätte, ohne ihr eine andere als dialektische bedeutsamkeit geben zu
wollen. so hat sich in den versöhnenden schluſs ein bitteres neues
moment eingedrängt, unwillkürlich, aus der scelenstimmung des dichters
heraus. das gelöbnis ἐγκαρτερήσω βίοτον stimmt wunderbar zu dem
gelöbnis οὐ παύσομαι τὰς Χάριτας. man glaubt zu empfinden, wie
dem dichter eine bittere erfahrung leben und poesie verleiden will, er aber
sich gewaltsam aufrafft, auch in sich den menschenadel findet, duldend
auszuharren, obwol ihn das leben eine sclaverei der τύχη dünkt, nur daſs
ihm der dichterberuf kraft verleiht, weil ihm der gott gab zu sagen was
er leidet. und in der tat, wer seine tätigkeit in seinem greisenalter über-
blickt, ihre fieberhafte hast, ihre friedlosigkeit, die verbitterte, welt und
menschen verachtende stimmung, und daneben die einzige freude eben
an der poetischen und, was für ihn dasselbe ist, der philosophischen tätig-
keit, der kann sichs gar wol so vorstellen, daſs er das gelöbnis erfüllt,
das er im Herakles gegeben hat, erfüllt bis zum letzten atemzuge, in
den Bakchen alle die wilden geister vorführend, die ihn in dem rasenden
taumel hielten, und von denen er sich in der neuen umgebung dadurch
los zu machen suchte, daſs er sie verkörperte54), und doch von den Musen

54) Dies der sinn der Bakchen. es kann niemand den Euripides ärger ver-
kennen, als wenn er in ihnen eine bekehrung zum glauben der alten weiber sieht.
Teiresias ist mit nichten der träger seiner ideen, und Dionysos, der so grausam an
Pentheus sich rächt, ist mit nichten sein gott. er dramatisirt diesen mythos, führt
die in ihm liegenden conflicte durch: ihm gehört nur die stimmung an, das gefühl
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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 379. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/399>, abgerufen am 20.04.2024.