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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Der Herakles des Euripides.
leben lang gewandelt ist, hat seinen sinn umnachtet, er kann ausser ihm
nicht leben. hervorbricht ein wilder hass, zunächst gegen den auftrag-
geber, dessen joch er nun doch los ist, hervorbricht eine grenzenlose
eitelkeit, die sich selbst zum sieger ausruft, eine sinnlose zerstörungslust,
die Mykenes mauern aus den fugen reissen will: er ruht nicht, bis er
wieder blut vergiesst, sein eigenes blut. so rast er bis zur physischen
erschöpfung. und keinesweges ist der ausbruch der raserei in seinem
charakter unvorbereitet. als er die gefahr der seinen erfahren hat, flammt
er ebenso in jähem sinnlosem zorne auf, will ganz Theben zusammen-
schlagen und würde ohne die besonnenheit seines vaters durch diese hitze
seinen ganzen anschlag gefährdet haben. nicht minder verstockt er sich
in eitlem trotze, als er seiner untat inne geworden ist; nicht mitleid,
trauer, tränen hat er, er lästert die götter, er weidet sich an seinen
heldentaten, er will sterben trotz den göttern, authadia. sein verbrechen
kommt aus derselben wurzel seines wesens wie seine heldengrösse: die
welt zu bezwingen, die welt in trümmer zu schlagen reicht die dorische
areta vielleicht aus. aber sie ist nicht göttlich, weil sie nicht mensch-
lich ist. erst der mensch, der sich seiner schwäche bewusst ist, wird
den wahren menschenadel zu üben stark genug sein, sich zu bezwingen
und sich zu bescheiden.

Das ist es, wozu Theseus, nicht der held, sondern der mensch und
seine liebe eingeführt wird. des freundes bedarf Herakles, auf den er
sich stütze, der ihm die last des lebens tragen helfe. die liebe scheut
sich nicht vor der befleckung menschlicher sünde, sie weiss dass der fluch
nicht ansteckt, und vor der reinen menschenliebe weichen die Erinyen,
die das verstockte herz bewohnen: diese entsühnung ist es, welche Theseus
dem Herakles bietet, darum preist dieser in seinem letzten worte den wert
dieser freundesliebe, an der Amphitryon (55) und Megara (559) ver-
zweifelt hatten. und diese liebe hat sich Herakles verschafft durch eine
tat, die ihm kein schicksal und kein Eurystheus auftrug, durch eine tat
freiwilliger hingabe, darum die einzige, an die er auch in tiefster ver-
bitterung gerne gedenkt (1235)53). die menschheit hat ihre eigene un-
zulänglichkeit einsehen gelernt in bittersten erfahrungen, darum genügt
ihr die Heraklesreligion nicht mehr: aber sie hat auch die himmlische
kraft erkennen gelernt, mit welcher sie die wunden lindern kann, die
sie sich selbst in ihrer überhebung schlägt: die kraft der liebe.

53) So fällt auch starkes licht auf das wort des Herakles und des chores, dass
die rettung der kinder eine freiwillige tat ist (583): nur das ekousion kann etwas
sittliches sein.

Der Herakles des Euripides.
leben lang gewandelt ist, hat seinen sinn umnachtet, er kann auſser ihm
nicht leben. hervorbricht ein wilder haſs, zunächst gegen den auftrag-
geber, dessen joch er nun doch los ist, hervorbricht eine grenzenlose
eitelkeit, die sich selbst zum sieger ausruft, eine sinnlose zerstörungslust,
die Mykenes mauern aus den fugen reiſsen will: er ruht nicht, bis er
wieder blut vergieſst, sein eigenes blut. so rast er bis zur physischen
erschöpfung. und keinesweges ist der ausbruch der raserei in seinem
charakter unvorbereitet. als er die gefahr der seinen erfahren hat, flammt
er ebenso in jähem sinnlosem zorne auf, will ganz Theben zusammen-
schlagen und würde ohne die besonnenheit seines vaters durch diese hitze
seinen ganzen anschlag gefährdet haben. nicht minder verstockt er sich
in eitlem trotze, als er seiner untat inne geworden ist; nicht mitleid,
trauer, tränen hat er, er lästert die götter, er weidet sich an seinen
heldentaten, er will sterben trotz den göttern, αὐϑαδίᾳ. sein verbrechen
kommt aus derselben wurzel seines wesens wie seine heldengröſse: die
welt zu bezwingen, die welt in trümmer zu schlagen reicht die dorische
ἀρετά vielleicht aus. aber sie ist nicht göttlich, weil sie nicht mensch-
lich ist. erst der mensch, der sich seiner schwäche bewuſst ist, wird
den wahren menschenadel zu üben stark genug sein, sich zu bezwingen
und sich zu bescheiden.

Das ist es, wozu Theseus, nicht der held, sondern der mensch und
seine liebe eingeführt wird. des freundes bedarf Herakles, auf den er
sich stütze, der ihm die last des lebens tragen helfe. die liebe scheut
sich nicht vor der befleckung menschlicher sünde, sie weiſs daſs der fluch
nicht ansteckt, und vor der reinen menschenliebe weichen die Erinyen,
die das verstockte herz bewohnen: diese entsühnung ist es, welche Theseus
dem Herakles bietet, darum preist dieser in seinem letzten worte den wert
dieser freundesliebe, an der Amphitryon (55) und Megara (559) ver-
zweifelt hatten. und diese liebe hat sich Herakles verschafft durch eine
tat, die ihm kein schicksal und kein Eurystheus auftrug, durch eine tat
freiwilliger hingabe, darum die einzige, an die er auch in tiefster ver-
bitterung gerne gedenkt (1235)53). die menschheit hat ihre eigene un-
zulänglichkeit einsehen gelernt in bittersten erfahrungen, darum genügt
ihr die Heraklesreligion nicht mehr: aber sie hat auch die himmlische
kraft erkennen gelernt, mit welcher sie die wunden lindern kann, die
sie sich selbst in ihrer überhebung schlägt: die kraft der liebe.

53) So fällt auch starkes licht auf das wort des Herakles und des chores, daſs
die rettung der kinder eine freiwillige tat ist (583): nur das ἑκούσιον kann etwas
sittliches sein.
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[376/0396] Der Herakles des Euripides. leben lang gewandelt ist, hat seinen sinn umnachtet, er kann auſser ihm nicht leben. hervorbricht ein wilder haſs, zunächst gegen den auftrag- geber, dessen joch er nun doch los ist, hervorbricht eine grenzenlose eitelkeit, die sich selbst zum sieger ausruft, eine sinnlose zerstörungslust, die Mykenes mauern aus den fugen reiſsen will: er ruht nicht, bis er wieder blut vergieſst, sein eigenes blut. so rast er bis zur physischen erschöpfung. und keinesweges ist der ausbruch der raserei in seinem charakter unvorbereitet. als er die gefahr der seinen erfahren hat, flammt er ebenso in jähem sinnlosem zorne auf, will ganz Theben zusammen- schlagen und würde ohne die besonnenheit seines vaters durch diese hitze seinen ganzen anschlag gefährdet haben. nicht minder verstockt er sich in eitlem trotze, als er seiner untat inne geworden ist; nicht mitleid, trauer, tränen hat er, er lästert die götter, er weidet sich an seinen heldentaten, er will sterben trotz den göttern, αὐϑαδίᾳ. sein verbrechen kommt aus derselben wurzel seines wesens wie seine heldengröſse: die welt zu bezwingen, die welt in trümmer zu schlagen reicht die dorische ἀρετά vielleicht aus. aber sie ist nicht göttlich, weil sie nicht mensch- lich ist. erst der mensch, der sich seiner schwäche bewuſst ist, wird den wahren menschenadel zu üben stark genug sein, sich zu bezwingen und sich zu bescheiden. Das ist es, wozu Theseus, nicht der held, sondern der mensch und seine liebe eingeführt wird. des freundes bedarf Herakles, auf den er sich stütze, der ihm die last des lebens tragen helfe. die liebe scheut sich nicht vor der befleckung menschlicher sünde, sie weiſs daſs der fluch nicht ansteckt, und vor der reinen menschenliebe weichen die Erinyen, die das verstockte herz bewohnen: diese entsühnung ist es, welche Theseus dem Herakles bietet, darum preist dieser in seinem letzten worte den wert dieser freundesliebe, an der Amphitryon (55) und Megara (559) ver- zweifelt hatten. und diese liebe hat sich Herakles verschafft durch eine tat, die ihm kein schicksal und kein Eurystheus auftrug, durch eine tat freiwilliger hingabe, darum die einzige, an die er auch in tiefster ver- bitterung gerne gedenkt (1235) 53). die menschheit hat ihre eigene un- zulänglichkeit einsehen gelernt in bittersten erfahrungen, darum genügt ihr die Heraklesreligion nicht mehr: aber sie hat auch die himmlische kraft erkennen gelernt, mit welcher sie die wunden lindern kann, die sie sich selbst in ihrer überhebung schlägt: die kraft der liebe. 53) So fällt auch starkes licht auf das wort des Herakles und des chores, daſs die rettung der kinder eine freiwillige tat ist (583): nur das ἑκούσιον kann etwas sittliches sein.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 376. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/396>, abgerufen am 25.04.2024.