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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Der Herakles des Euripides.
äusserste getrieben werden, Herakles erscheinen und retten. es war er-
forderlich, dass Lykos oder doch seine partei zum worte und zur erschei-
nung kam; in dem momente, wo Herakles wiederkehrte, konnte er jedoch
nicht gegenwärtig sein, sonst hätte er sofort den tod finden müssen, was
die schicklichkeitsbegriffe verboten; zudem würden zu viel personen zu-
gleich auf der bühne gewesen sein. so ergaben sich die vier scenen, die
wir vorfinden 1) prolog und parodos, welche die exposition geben, 2) con-
flict zwischen Lykos und der Heraklespartei, der sich in diesem falle nur
in worten abspielen kann, und dessen ausgang von vorn herein sicher
ist. 3) die höchste not und das erscheinen des retters. 4) der tod des
Lykos. hinter 2 3 4 sind pausen in der handlung, also standlieder des
chores angezeigt. die motive, welche diesen aufbau der scenen ermög-
lichen, sind angemessen aber billig. die von Lykos bedrohten personen
sind an einen altar geflüchtet, er bestimmt sie dieses asyl zu verlassen
durch die drohung, sie auf dem altar verbrennen zu lassen, bewilligt
ihnen aber einen kurzen aufschub, damit die kinder sich mit leichen-
gewändern schmücken, und lässt sie während dieser zeit unbewacht (eine
unwahrscheinlichkeit, die der zuschauer kaum bemerken wird). in dieser
frist kommt Herakles und braucht nun bloss im hause die ankunft des
Lykos abzuwarten, um ihn ohne mühe zu überwinden. der ganze vor-
gang entspricht den sitten der zeit, welche viele beispiele für die flucht
von hilflosen an altäre darbietet, aber auch von umgehungen und ver-
letzungen des asylrechtes. die handlung kann in diesem teile keinen
grossen eindruck machen. die charaktere liefern nur teilweis ersatz.
Lykos ist nicht mehr als ein gewöhnlicher bühnenbösewicht; religion
und sitte sind ihm vorurteile, gott und tugend ein wahn, und er renom-
mirt mit seiner schlechtigkeit; die verbrechen, zu denen ihn seine anai-
deia, der mangel an jedem sittlichen gefühle, treibt, proclamirt er als
gerechtfertigt durch die politische klugheit (asphaleia), ist aber schliess-
lich, wie jeder verbrecher, dumm und geht mit frechem schritte in das
garn. solch einen bösewicht denkt sich der Athener am liebsten als
tyrannen, und dazu gehört auch, dass er ein parvenu ist, ohne erziehung
und manieren (skaios 299). ein naives publicum wird an dieser figur
und ihrer bestrafung seine freude haben; damit hat Euripides aber nur
für das parterre, zum teil nur für die gallerie gearbeitet. wenn die
gegenpartei bloss mit den entsprechenden farben gezeichnet wäre, edelmut
und hilflosigkeit, todesfurcht und ergebenheit, unschuld und seelenadel,
so würde das auch nur für ein ganz gewöhnliches theaterstück gut sein.
und die sophistische rhetorik, die in Amphitryons reden wider Lykos sich

Der Herakles des Euripides.
äuſserste getrieben werden, Herakles erscheinen und retten. es war er-
forderlich, daſs Lykos oder doch seine partei zum worte und zur erschei-
nung kam; in dem momente, wo Herakles wiederkehrte, konnte er jedoch
nicht gegenwärtig sein, sonst hätte er sofort den tod finden müssen, was
die schicklichkeitsbegriffe verboten; zudem würden zu viel personen zu-
gleich auf der bühne gewesen sein. so ergaben sich die vier scenen, die
wir vorfinden 1) prolog und parodos, welche die exposition geben, 2) con-
flict zwischen Lykos und der Heraklespartei, der sich in diesem falle nur
in worten abspielen kann, und dessen ausgang von vorn herein sicher
ist. 3) die höchste not und das erscheinen des retters. 4) der tod des
Lykos. hinter 2 3 4 sind pausen in der handlung, also standlieder des
chores angezeigt. die motive, welche diesen aufbau der scenen ermög-
lichen, sind angemessen aber billig. die von Lykos bedrohten personen
sind an einen altar geflüchtet, er bestimmt sie dieses asyl zu verlassen
durch die drohung, sie auf dem altar verbrennen zu lassen, bewilligt
ihnen aber einen kurzen aufschub, damit die kinder sich mit leichen-
gewändern schmücken, und läſst sie während dieser zeit unbewacht (eine
unwahrscheinlichkeit, die der zuschauer kaum bemerken wird). in dieser
frist kommt Herakles und braucht nun bloſs im hause die ankunft des
Lykos abzuwarten, um ihn ohne mühe zu überwinden. der ganze vor-
gang entspricht den sitten der zeit, welche viele beispiele für die flucht
von hilflosen an altäre darbietet, aber auch von umgehungen und ver-
letzungen des asylrechtes. die handlung kann in diesem teile keinen
groſsen eindruck machen. die charaktere liefern nur teilweis ersatz.
Lykos ist nicht mehr als ein gewöhnlicher bühnenbösewicht; religion
und sitte sind ihm vorurteile, gott und tugend ein wahn, und er renom-
mirt mit seiner schlechtigkeit; die verbrechen, zu denen ihn seine ἀναί-
δεια, der mangel an jedem sittlichen gefühle, treibt, proclamirt er als
gerechtfertigt durch die politische klugheit (ἀσφάλεια), ist aber schlieſs-
lich, wie jeder verbrecher, dumm und geht mit frechem schritte in das
garn. solch einen bösewicht denkt sich der Athener am liebsten als
tyrannen, und dazu gehört auch, daſs er ein parvenu ist, ohne erziehung
und manieren (σκαιός 299). ein naives publicum wird an dieser figur
und ihrer bestrafung seine freude haben; damit hat Euripides aber nur
für das parterre, zum teil nur für die gallerie gearbeitet. wenn die
gegenpartei bloſs mit den entsprechenden farben gezeichnet wäre, edelmut
und hilflosigkeit, todesfurcht und ergebenheit, unschuld und seelenadel,
so würde das auch nur für ein ganz gewöhnliches theaterstück gut sein.
und die sophistische rhetorik, die in Amphitryons reden wider Lykos sich

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[366/0386] Der Herakles des Euripides. äuſserste getrieben werden, Herakles erscheinen und retten. es war er- forderlich, daſs Lykos oder doch seine partei zum worte und zur erschei- nung kam; in dem momente, wo Herakles wiederkehrte, konnte er jedoch nicht gegenwärtig sein, sonst hätte er sofort den tod finden müssen, was die schicklichkeitsbegriffe verboten; zudem würden zu viel personen zu- gleich auf der bühne gewesen sein. so ergaben sich die vier scenen, die wir vorfinden 1) prolog und parodos, welche die exposition geben, 2) con- flict zwischen Lykos und der Heraklespartei, der sich in diesem falle nur in worten abspielen kann, und dessen ausgang von vorn herein sicher ist. 3) die höchste not und das erscheinen des retters. 4) der tod des Lykos. hinter 2 3 4 sind pausen in der handlung, also standlieder des chores angezeigt. die motive, welche diesen aufbau der scenen ermög- lichen, sind angemessen aber billig. die von Lykos bedrohten personen sind an einen altar geflüchtet, er bestimmt sie dieses asyl zu verlassen durch die drohung, sie auf dem altar verbrennen zu lassen, bewilligt ihnen aber einen kurzen aufschub, damit die kinder sich mit leichen- gewändern schmücken, und läſst sie während dieser zeit unbewacht (eine unwahrscheinlichkeit, die der zuschauer kaum bemerken wird). in dieser frist kommt Herakles und braucht nun bloſs im hause die ankunft des Lykos abzuwarten, um ihn ohne mühe zu überwinden. der ganze vor- gang entspricht den sitten der zeit, welche viele beispiele für die flucht von hilflosen an altäre darbietet, aber auch von umgehungen und ver- letzungen des asylrechtes. die handlung kann in diesem teile keinen groſsen eindruck machen. die charaktere liefern nur teilweis ersatz. Lykos ist nicht mehr als ein gewöhnlicher bühnenbösewicht; religion und sitte sind ihm vorurteile, gott und tugend ein wahn, und er renom- mirt mit seiner schlechtigkeit; die verbrechen, zu denen ihn seine ἀναί- δεια, der mangel an jedem sittlichen gefühle, treibt, proclamirt er als gerechtfertigt durch die politische klugheit (ἀσφάλεια), ist aber schlieſs- lich, wie jeder verbrecher, dumm und geht mit frechem schritte in das garn. solch einen bösewicht denkt sich der Athener am liebsten als tyrannen, und dazu gehört auch, daſs er ein parvenu ist, ohne erziehung und manieren (σκαιός 299). ein naives publicum wird an dieser figur und ihrer bestrafung seine freude haben; damit hat Euripides aber nur für das parterre, zum teil nur für die gallerie gearbeitet. wenn die gegenpartei bloſs mit den entsprechenden farben gezeichnet wäre, edelmut und hilflosigkeit, todesfurcht und ergebenheit, unschuld und seelenadel, so würde das auch nur für ein ganz gewöhnliches theaterstück gut sein. und die sophistische rhetorik, die in Amphitryons reden wider Lykos sich

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 366. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/386>, abgerufen am 25.04.2024.