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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Aufbau des dramas.
mund gelegt, das er selbst als geron aoidos abgibt. für sich und seine
der tragödie fern liegenden persönlichen äusserungen war ihm diese maske
genehmer als die weibliche, die sonst allerdings näher gelegen hätte; denn
die teilnahme des chores contrastirt mit der verlassenheit der Herakles-
kinder und contrastirt auch mit der festen herrschaft des Lykos über
Theben. deshalb hat der dichter besonderer hilfsmotive bedurft. er
unterscheidet die parteien in Theben, die braven alten und die bösen
jungen, welche nur leider die macht haben, da die alten ganz kampf-
untüchtig geworden sind. man könnte versucht sein, hierin eine poli-
tische spitze zu sehen, da Aristophanes so gern die verschiedenen stim-
mungen der attischen bürgerschaft als die ewig gleichen gegensätze von
alt und jung fasst, und Euripides auch in den Hiketiden auf die ehr-
geizige jugend schilt (232). aber darauf ist hier kein wert gelegt, denn
die zwistigkeiten innerhalb der bürgerschaft sind nur so lange vorhanden,
als es gilt, sowol die sympathie wie die machtlosigkeit des chores fest
zu stellen. hätte Euripides den jugendtollen staatsverderbern eine lection
erteilen wollen, so würde sein Lykos ihre politik entwickeln. vielmehr
hat er den chor nur durch ein charakteristicum ausgezeichnet, den adels-
stolz. dass sie Sparten sind, Lykos ein hergelaufner Euboeer, schärfen
sie wieder und wieder ein, und auch an Herakles rühmen sie, wenn
auch unter verschiedener schätzung, vor allem den adel. es weist das
in dieselbe richtung wie die debatten über die vaterschaft des Zeus. und
wie jener mythos im letzten teile zerstört oder vielmehr im höheren sinne
wahr gemacht wird, so hören wir auch über den adel, dass freilich das
blut ihn nicht macht, aber adel ist auch in der sittlichen welt: er zeigt
sich im leiden viel mehr als im handeln, denn das ist schwerer. diesen
adel fordert Theseus (1228), beweist Herakles durch die tat.

Amphitryon und der chor sind die personen, über die der dichter
mit sich vorab im reinen sein musste, ehe er an die ausarbeitung des
dramas gieng. sind sie einmal erfasst, so ergibt sich der aufbau des
ersten teiles fast von selbst, sobald man nur die manier, die Euripides
nun einmal sich gebildet hatte, walten lässt. er verwendet regelmässig
den prolog und das erste chorlied ausschliesslich zur exposition: die
situation, welche er voraussetzt, wird noch im zustande der ruhe gezeigt;
die handlung beginnt erst nach dem ersten liede. in diesem falle war
sehr viel zu erzählen, die neugeschaffenen voraussetzungen des dichters.
beginnen musste er so, dass die gefahr der familie des Herakles zwar
dringend und unabwendbar, aber noch nicht unmittelbar todbringend war.
dann musste dieser zustand eintreten, die spannung der zuschauer auss

Aufbau des dramas.
mund gelegt, das er selbst als γέρων ἀοιδός abgibt. für sich und seine
der tragödie fern liegenden persönlichen äuſserungen war ihm diese maske
genehmer als die weibliche, die sonst allerdings näher gelegen hätte; denn
die teilnahme des chores contrastirt mit der verlassenheit der Herakles-
kinder und contrastirt auch mit der festen herrschaft des Lykos über
Theben. deshalb hat der dichter besonderer hilfsmotive bedurft. er
unterscheidet die parteien in Theben, die braven alten und die bösen
jungen, welche nur leider die macht haben, da die alten ganz kampf-
untüchtig geworden sind. man könnte versucht sein, hierin eine poli-
tische spitze zu sehen, da Aristophanes so gern die verschiedenen stim-
mungen der attischen bürgerschaft als die ewig gleichen gegensätze von
alt und jung faſst, und Euripides auch in den Hiketiden auf die ehr-
geizige jugend schilt (232). aber darauf ist hier kein wert gelegt, denn
die zwistigkeiten innerhalb der bürgerschaft sind nur so lange vorhanden,
als es gilt, sowol die sympathie wie die machtlosigkeit des chores fest
zu stellen. hätte Euripides den jugendtollen staatsverderbern eine lection
erteilen wollen, so würde sein Lykos ihre politik entwickeln. vielmehr
hat er den chor nur durch ein charakteristicum ausgezeichnet, den adels-
stolz. daſs sie Sparten sind, Lykos ein hergelaufner Euboeer, schärfen
sie wieder und wieder ein, und auch an Herakles rühmen sie, wenn
auch unter verschiedener schätzung, vor allem den adel. es weist das
in dieselbe richtung wie die debatten über die vaterschaft des Zeus. und
wie jener mythos im letzten teile zerstört oder vielmehr im höheren sinne
wahr gemacht wird, so hören wir auch über den adel, daſs freilich das
blut ihn nicht macht, aber adel ist auch in der sittlichen welt: er zeigt
sich im leiden viel mehr als im handeln, denn das ist schwerer. diesen
adel fordert Theseus (1228), beweist Herakles durch die tat.

Amphitryon und der chor sind die personen, über die der dichter
mit sich vorab im reinen sein muſste, ehe er an die ausarbeitung des
dramas gieng. sind sie einmal erfaſst, so ergibt sich der aufbau des
ersten teiles fast von selbst, sobald man nur die manier, die Euripides
nun einmal sich gebildet hatte, walten läſst. er verwendet regelmäſsig
den prolog und das erste chorlied ausschlieſslich zur exposition: die
situation, welche er voraussetzt, wird noch im zustande der ruhe gezeigt;
die handlung beginnt erst nach dem ersten liede. in diesem falle war
sehr viel zu erzählen, die neugeschaffenen voraussetzungen des dichters.
beginnen muſste er so, daſs die gefahr der familie des Herakles zwar
dringend und unabwendbar, aber noch nicht unmittelbar todbringend war.
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[365/0385] Aufbau des dramas. mund gelegt, das er selbst als γέρων ἀοιδός abgibt. für sich und seine der tragödie fern liegenden persönlichen äuſserungen war ihm diese maske genehmer als die weibliche, die sonst allerdings näher gelegen hätte; denn die teilnahme des chores contrastirt mit der verlassenheit der Herakles- kinder und contrastirt auch mit der festen herrschaft des Lykos über Theben. deshalb hat der dichter besonderer hilfsmotive bedurft. er unterscheidet die parteien in Theben, die braven alten und die bösen jungen, welche nur leider die macht haben, da die alten ganz kampf- untüchtig geworden sind. man könnte versucht sein, hierin eine poli- tische spitze zu sehen, da Aristophanes so gern die verschiedenen stim- mungen der attischen bürgerschaft als die ewig gleichen gegensätze von alt und jung faſst, und Euripides auch in den Hiketiden auf die ehr- geizige jugend schilt (232). aber darauf ist hier kein wert gelegt, denn die zwistigkeiten innerhalb der bürgerschaft sind nur so lange vorhanden, als es gilt, sowol die sympathie wie die machtlosigkeit des chores fest zu stellen. hätte Euripides den jugendtollen staatsverderbern eine lection erteilen wollen, so würde sein Lykos ihre politik entwickeln. vielmehr hat er den chor nur durch ein charakteristicum ausgezeichnet, den adels- stolz. daſs sie Sparten sind, Lykos ein hergelaufner Euboeer, schärfen sie wieder und wieder ein, und auch an Herakles rühmen sie, wenn auch unter verschiedener schätzung, vor allem den adel. es weist das in dieselbe richtung wie die debatten über die vaterschaft des Zeus. und wie jener mythos im letzten teile zerstört oder vielmehr im höheren sinne wahr gemacht wird, so hören wir auch über den adel, daſs freilich das blut ihn nicht macht, aber adel ist auch in der sittlichen welt: er zeigt sich im leiden viel mehr als im handeln, denn das ist schwerer. diesen adel fordert Theseus (1228), beweist Herakles durch die tat. Amphitryon und der chor sind die personen, über die der dichter mit sich vorab im reinen sein muſste, ehe er an die ausarbeitung des dramas gieng. sind sie einmal erfaſst, so ergibt sich der aufbau des ersten teiles fast von selbst, sobald man nur die manier, die Euripides nun einmal sich gebildet hatte, walten läſst. er verwendet regelmäſsig den prolog und das erste chorlied ausschlieſslich zur exposition: die situation, welche er voraussetzt, wird noch im zustande der ruhe gezeigt; die handlung beginnt erst nach dem ersten liede. in diesem falle war sehr viel zu erzählen, die neugeschaffenen voraussetzungen des dichters. beginnen muſste er so, daſs die gefahr der familie des Herakles zwar dringend und unabwendbar, aber noch nicht unmittelbar todbringend war. dann muſste dieser zustand eintreten, die spannung der zuschauer auſs

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 365. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/385>, abgerufen am 25.04.2024.