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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Gestaltung des stoffes. aufbau des dramas.
Lykos sofort wieder beseitigt, so hatte die erfindung gar keine bedenk-
lichen folgen; nur in der euripideischen fabel, die ihn erzeugt hatte, hat
dieser Lykos sein bischen leben gehabt 39).

Diese drei neuerungen, welche Euripides mit dem überlieferten stoffe
vornahm, sind in wahrheit nur consequenzen der inneren umgestaltung,
welcher er die sage selbst unterzog. sie sind aber als gegebene grössen
zu betrachten, wenn wir den aufbau des dramas prüfen wollen, dessen
grundlage eine bestimmte form einer bestimmten geschichte ist. ob die
überlieferung oder der dichter, ob dieser in einer bestimmt zu erfassenden
absicht oder aus willkür und laune den grund gelegt hat, ist für die
eigentlich dramatische ausgestaltung unwesentlich.

Euripides beabsichtigte Herakles die seinen erst retten, dann tötenAufbau des
dramas.

zu lassen. die ganze geschichte ihrer gefahr und rettung war freie neue
erfindung; über sie musste er den zuschauer genau unterrichten; das
erforderte also verhältnismässig viel raum. da die beiden parteien, welche
sich in diesem teile des dramas gegenüberstehen, durch Herakles gleicher-
massen vernichtet werden, bedurfte der dichter einer vermittelnden person,
welche mit ihrer teilnahme sowol jenen wie dem Herakles zur seite stünde
und die continuität des dramas wahrte. es musste das eine verhältnis-
mässig wenig selbst betroffene, dem helden innerlich ergebene sein, die
also die teilnahme des zuschauers nicht auf sich ablenkte, sondern nur
auf die eigentlichen träger der handlung stätig und gesammelt hinführte.
man könnte meinen, dazu wäre ja der chor da. aber das würde wol
den vorschriften des Aristoteles, aber keinesweges der weise der grossen
dichter entsprechen. einer ästhetischen betrachtung, welche, wie die des
Aristoteles, zwar absolute regeln geben will, aber mit der lediglich ge-
schichtlich nicht begrifflich mit dem drama verbundenen institution des
chores als einer notwendigen rechnet, kann eine solche rolle mit recht
als die angemessenste für den chor gelten. tatsächlich haben die dichter
dem chor eine so conventionelle stellung niemals gegeben, sondern die

`Kreousa' erfunden. der geschlechtsname des thessalischen fürstenhauses ist Sko-
padai: aber es ist das fürstenhaus, deshalb heissen sie Kreondai, und natürlich
findet sich später ein ahn Kreon.
39) Die einzige umbildung seiner rolle ist durch die unwissenheit und willkür
spätester lateinischer grammatiker vorgenommen. zu Statius Theb. IV 570 tristem
nosco Lycum
, welches auf den gatten Dirkes geht, lautet das scholion hic est ergo
Lycus, qui Megaram filiam suam Herculi dedit uxorem et ob hoc a Iunone in
furorem versus est et filios Herculis ex Megara susceptos Oxea et Leontiadem

(d. i. Kreontiaden: der andere name bleibt unsicher) occidit. tristis ergo propter
mortem nepotum
.

Gestaltung des stoffes. aufbau des dramas.
Lykos sofort wieder beseitigt, so hatte die erfindung gar keine bedenk-
lichen folgen; nur in der euripideischen fabel, die ihn erzeugt hatte, hat
dieser Lykos sein bischen leben gehabt 39).

Diese drei neuerungen, welche Euripides mit dem überlieferten stoffe
vornahm, sind in wahrheit nur consequenzen der inneren umgestaltung,
welcher er die sage selbst unterzog. sie sind aber als gegebene gröſsen
zu betrachten, wenn wir den aufbau des dramas prüfen wollen, dessen
grundlage eine bestimmte form einer bestimmten geschichte ist. ob die
überlieferung oder der dichter, ob dieser in einer bestimmt zu erfassenden
absicht oder aus willkür und laune den grund gelegt hat, ist für die
eigentlich dramatische ausgestaltung unwesentlich.

Euripides beabsichtigte Herakles die seinen erst retten, dann tötenAufbau des
dramas.

zu lassen. die ganze geschichte ihrer gefahr und rettung war freie neue
erfindung; über sie muſste er den zuschauer genau unterrichten; das
erforderte also verhältnismäſsig viel raum. da die beiden parteien, welche
sich in diesem teile des dramas gegenüberstehen, durch Herakles gleicher-
maſsen vernichtet werden, bedurfte der dichter einer vermittelnden person,
welche mit ihrer teilnahme sowol jenen wie dem Herakles zur seite stünde
und die continuität des dramas wahrte. es muſste das eine verhältnis-
mäſsig wenig selbst betroffene, dem helden innerlich ergebene sein, die
also die teilnahme des zuschauers nicht auf sich ablenkte, sondern nur
auf die eigentlichen träger der handlung stätig und gesammelt hinführte.
man könnte meinen, dazu wäre ja der chor da. aber das würde wol
den vorschriften des Aristoteles, aber keinesweges der weise der groſsen
dichter entsprechen. einer ästhetischen betrachtung, welche, wie die des
Aristoteles, zwar absolute regeln geben will, aber mit der lediglich ge-
schichtlich nicht begrifflich mit dem drama verbundenen institution des
chores als einer notwendigen rechnet, kann eine solche rolle mit recht
als die angemessenste für den chor gelten. tatsächlich haben die dichter
dem chor eine so conventionelle stellung niemals gegeben, sondern die

῾Κρέουσα᾿ erfunden. der geschlechtsname des thessalischen fürstenhauses ist Σκο-
πάδαι: aber es ist das fürstenhaus, deshalb heiſsen sie Κρεῶνδαι, und natürlich
findet sich später ein ahn Κρέων.
39) Die einzige umbildung seiner rolle ist durch die unwissenheit und willkür
spätester lateinischer grammatiker vorgenommen. zu Statius Theb. IV 570 tristem
nosco Lycum
, welches auf den gatten Dirkes geht, lautet das scholion hic est ergo
Lycus, qui Megaram filiam suam Herculi dedit uxorem et ob hoc a Iunone in
furorem versus est et filios Herculis ex Megara susceptos Oxea et Leontiadem

(d. i. Κρεοντιάδην: der andere name bleibt unsicher) occidit. tristis ergo propter
mortem nepotum
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[361/0381] Gestaltung des stoffes. aufbau des dramas. Lykos sofort wieder beseitigt, so hatte die erfindung gar keine bedenk- lichen folgen; nur in der euripideischen fabel, die ihn erzeugt hatte, hat dieser Lykos sein bischen leben gehabt 39). Diese drei neuerungen, welche Euripides mit dem überlieferten stoffe vornahm, sind in wahrheit nur consequenzen der inneren umgestaltung, welcher er die sage selbst unterzog. sie sind aber als gegebene gröſsen zu betrachten, wenn wir den aufbau des dramas prüfen wollen, dessen grundlage eine bestimmte form einer bestimmten geschichte ist. ob die überlieferung oder der dichter, ob dieser in einer bestimmt zu erfassenden absicht oder aus willkür und laune den grund gelegt hat, ist für die eigentlich dramatische ausgestaltung unwesentlich. Euripides beabsichtigte Herakles die seinen erst retten, dann töten zu lassen. die ganze geschichte ihrer gefahr und rettung war freie neue erfindung; über sie muſste er den zuschauer genau unterrichten; das erforderte also verhältnismäſsig viel raum. da die beiden parteien, welche sich in diesem teile des dramas gegenüberstehen, durch Herakles gleicher- maſsen vernichtet werden, bedurfte der dichter einer vermittelnden person, welche mit ihrer teilnahme sowol jenen wie dem Herakles zur seite stünde und die continuität des dramas wahrte. es muſste das eine verhältnis- mäſsig wenig selbst betroffene, dem helden innerlich ergebene sein, die also die teilnahme des zuschauers nicht auf sich ablenkte, sondern nur auf die eigentlichen träger der handlung stätig und gesammelt hinführte. man könnte meinen, dazu wäre ja der chor da. aber das würde wol den vorschriften des Aristoteles, aber keinesweges der weise der groſsen dichter entsprechen. einer ästhetischen betrachtung, welche, wie die des Aristoteles, zwar absolute regeln geben will, aber mit der lediglich ge- schichtlich nicht begrifflich mit dem drama verbundenen institution des chores als einer notwendigen rechnet, kann eine solche rolle mit recht als die angemessenste für den chor gelten. tatsächlich haben die dichter dem chor eine so conventionelle stellung niemals gegeben, sondern die 38) Aufbau des dramas. 39) Die einzige umbildung seiner rolle ist durch die unwissenheit und willkür spätester lateinischer grammatiker vorgenommen. zu Statius Theb. IV 570 tristem nosco Lycum, welches auf den gatten Dirkes geht, lautet das scholion hic est ergo Lycus, qui Megaram filiam suam Herculi dedit uxorem et ob hoc a Iunone in furorem versus est et filios Herculis ex Megara susceptos Oxea et Leontiadem (d. i. Κρεοντιάδην: der andere name bleibt unsicher) occidit. tristis ergo propter mortem nepotum. 38) ῾Κρέουσα᾿ erfunden. der geschlechtsname des thessalischen fürstenhauses ist Σκο- πάδαι: aber es ist das fürstenhaus, deshalb heiſsen sie Κρεῶνδαι, und natürlich findet sich später ein ahn Κρέων.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 361. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/381>, abgerufen am 19.04.2024.