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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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kalische stimmung erzeugen will, während wirklich originelle wendungen
spärlich werden. davon sondert sich der Herakles scharf ab. der sprache
nach möchte man ihn, trotz einer anzahl barocker wendungen, den älteren
dramen anreihen.

Das scheint sich zu widersprechen; aber alle einzelnen erscheinungen
erklären sich, sobald man nur anerkennt, dass der dichter sich mit diesem
drama besonders viel mühe gegeben hat, und sobald man sich über die
gründe der sprachlichen und metrischen veränderungen klar wird. es
ist doch nicht lüderlichkeit oder greisenhaftigkeit, was die kunst der
beiden grossen tragiker so stark verändert hat. im gegenteil, ihr rast-
loser fleiss und ihre bewundernswerte empfänglichkeit hat sie nicht
bei der alten manier beharren lassen. die belebung des trimeters durch
die zulassung dreisylbiger füsse, die entfesselung der rhythmischen kunst,
die ausgedehnte verwendung der schauspieler als sänger waren oder
schienen doch verbesserungen. deshalb treten sie im Herakles auf, viel-
leicht etwas früher als sonst. dagegen die mangelhafte originalität und
die buntscheckigkeit der sprache und auch der versmasse stellt sich nicht
mit absicht des dichters ein, sondern ist lediglich eine folge der über-
hasteten production und des strebens nach effecten auf anderen gebieten,
welche der dichter, dem sie schwerlich entgehen konnte, nicht gesucht,
aber sich erlauben zu dürfen geglaubt hat. deshalb wird ein mit beson-
derer liebe gepflegtes werk in diesen dingen einen altertümlicheren ein-
druck machen, während es vielleicht durch die starke verwendung der
neuen kunstmittel moderner scheint als es ist. wir müssen doch so wie
so uns immer vorhalten, dass die tragiker sich notgedrungen verschiedene
farben auf der palette halten mussten, da sie mit vier dramen zugleich
hervortraten, die unmöglich alle übereins aussehen durften. so hat denn
Euripides z. b. den Ion und die Elektra ziemlich in denselben jahren
gedichtet, und spuren davon enthalten sie beide, aber der gesammteindruck
ist doch ein sehr verschiedener; Ion zeigt die modernsten, Elektra archaische,
besser archaistische züge. wer sich aber die stoffe und die tendenzen des
dichters überlegt, wird in der verschiedenen stilisierung berechtigte ab-
sicht nicht verkennen.

Die besondere liebe des dichters und zugleich die besonderheit des
stoffes hat auch das bewirkt, dass die prüfung und vergleichung der drama-
tischen technik zwar die vortrefflichkeit des Herakles vor anderen dramen
ins licht stellt, aber nichts neues über ihre zeitfolge lehrt. dass Iris und
Lyssa auf einem 'die luft' bedeutenden balkon in der höhe erscheinen,
setzt freilich eine einrichtung der bühne voraus, die den älteren dramen

v. Wilamowitz I. 23

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kalische stimmung erzeugen will, während wirklich originelle wendungen
spärlich werden. davon sondert sich der Herakles scharf ab. der sprache
nach möchte man ihn, trotz einer anzahl barocker wendungen, den älteren
dramen anreihen.

Das scheint sich zu widersprechen; aber alle einzelnen erscheinungen
erklären sich, sobald man nur anerkennt, daſs der dichter sich mit diesem
drama besonders viel mühe gegeben hat, und sobald man sich über die
gründe der sprachlichen und metrischen veränderungen klar wird. es
ist doch nicht lüderlichkeit oder greisenhaftigkeit, was die kunst der
beiden groſsen tragiker so stark verändert hat. im gegenteil, ihr rast-
loser fleiſs und ihre bewundernswerte empfänglichkeit hat sie nicht
bei der alten manier beharren lassen. die belebung des trimeters durch
die zulassung dreisylbiger füſse, die entfesselung der rhythmischen kunst,
die ausgedehnte verwendung der schauspieler als sänger waren oder
schienen doch verbesserungen. deshalb treten sie im Herakles auf, viel-
leicht etwas früher als sonst. dagegen die mangelhafte originalität und
die buntscheckigkeit der sprache und auch der versmaſse stellt sich nicht
mit absicht des dichters ein, sondern ist lediglich eine folge der über-
hasteten production und des strebens nach effecten auf anderen gebieten,
welche der dichter, dem sie schwerlich entgehen konnte, nicht gesucht,
aber sich erlauben zu dürfen geglaubt hat. deshalb wird ein mit beson-
derer liebe gepflegtes werk in diesen dingen einen altertümlicheren ein-
druck machen, während es vielleicht durch die starke verwendung der
neuen kunstmittel moderner scheint als es ist. wir müssen doch so wie
so uns immer vorhalten, daſs die tragiker sich notgedrungen verschiedene
farben auf der palette halten muſsten, da sie mit vier dramen zugleich
hervortraten, die unmöglich alle übereins aussehen durften. so hat denn
Euripides z. b. den Ion und die Elektra ziemlich in denselben jahren
gedichtet, und spuren davon enthalten sie beide, aber der gesammteindruck
ist doch ein sehr verschiedener; Ion zeigt die modernsten, Elektra archaische,
besser archaistische züge. wer sich aber die stoffe und die tendenzen des
dichters überlegt, wird in der verschiedenen stilisierung berechtigte ab-
sicht nicht verkennen.

Die besondere liebe des dichters und zugleich die besonderheit des
stoffes hat auch das bewirkt, daſs die prüfung und vergleichung der drama-
tischen technik zwar die vortrefflichkeit des Herakles vor anderen dramen
ins licht stellt, aber nichts neues über ihre zeitfolge lehrt. daſs Iris und
Lyssa auf einem ‘die luft’ bedeutenden balkon in der höhe erscheinen,
setzt freilich eine einrichtung der bühne voraus, die den älteren dramen

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[353/0373] Äuſsere form. kalische stimmung erzeugen will, während wirklich originelle wendungen spärlich werden. davon sondert sich der Herakles scharf ab. der sprache nach möchte man ihn, trotz einer anzahl barocker wendungen, den älteren dramen anreihen. Das scheint sich zu widersprechen; aber alle einzelnen erscheinungen erklären sich, sobald man nur anerkennt, daſs der dichter sich mit diesem drama besonders viel mühe gegeben hat, und sobald man sich über die gründe der sprachlichen und metrischen veränderungen klar wird. es ist doch nicht lüderlichkeit oder greisenhaftigkeit, was die kunst der beiden groſsen tragiker so stark verändert hat. im gegenteil, ihr rast- loser fleiſs und ihre bewundernswerte empfänglichkeit hat sie nicht bei der alten manier beharren lassen. die belebung des trimeters durch die zulassung dreisylbiger füſse, die entfesselung der rhythmischen kunst, die ausgedehnte verwendung der schauspieler als sänger waren oder schienen doch verbesserungen. deshalb treten sie im Herakles auf, viel- leicht etwas früher als sonst. dagegen die mangelhafte originalität und die buntscheckigkeit der sprache und auch der versmaſse stellt sich nicht mit absicht des dichters ein, sondern ist lediglich eine folge der über- hasteten production und des strebens nach effecten auf anderen gebieten, welche der dichter, dem sie schwerlich entgehen konnte, nicht gesucht, aber sich erlauben zu dürfen geglaubt hat. deshalb wird ein mit beson- derer liebe gepflegtes werk in diesen dingen einen altertümlicheren ein- druck machen, während es vielleicht durch die starke verwendung der neuen kunstmittel moderner scheint als es ist. wir müssen doch so wie so uns immer vorhalten, daſs die tragiker sich notgedrungen verschiedene farben auf der palette halten muſsten, da sie mit vier dramen zugleich hervortraten, die unmöglich alle übereins aussehen durften. so hat denn Euripides z. b. den Ion und die Elektra ziemlich in denselben jahren gedichtet, und spuren davon enthalten sie beide, aber der gesammteindruck ist doch ein sehr verschiedener; Ion zeigt die modernsten, Elektra archaische, besser archaistische züge. wer sich aber die stoffe und die tendenzen des dichters überlegt, wird in der verschiedenen stilisierung berechtigte ab- sicht nicht verkennen. Die besondere liebe des dichters und zugleich die besonderheit des stoffes hat auch das bewirkt, daſs die prüfung und vergleichung der drama- tischen technik zwar die vortrefflichkeit des Herakles vor anderen dramen ins licht stellt, aber nichts neues über ihre zeitfolge lehrt. daſs Iris und Lyssa auf einem ‘die luft’ bedeutenden balkon in der höhe erscheinen, setzt freilich eine einrichtung der bühne voraus, die den älteren dramen v. Wilamowitz I. 23

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 353. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/373>, abgerufen am 24.04.2024.