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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Der Herakles des Euripides.
der gegenüber die enoplischen dochmien noch streng scheinen können.
so überschaut man eine entwickelung, welche man natürlich mit der-
selben weiteren spielraum lassenden vorsicht beurteilen muss, welche aber
wenigstens über die zugehörigkeit eines dramas zu der oder jener gruppe
keinen zweifel lässt. dass die neue musik, der dithyrambus, den tragikern
vorbild gewesen sei, ist eine unabweisbare schlussfolgerung. der Herakles
hat nun die enoplischen dochmien in sehr breiter ausdehnung angewandt:
die drei letzten gesangnummern gehören ihnen ganz an. ausserdem finden
sie sich in Andromache (825--65), Troerinnen (241--91) Ion (762--99.
1445--1509) Helene (625--97), Iphig. Taur. (827--99) Phoenissen
(103--92) Orestes (173--203. 1246--1309. 1353--65) Bakchen (1017--23.
1153--99) 25). in den beiden letzten und jüngsten stücken respondieren die
dochmien meistens; dasselbe geschieht bei Sophokles in Aias (373--76 =
387--91, 879--914 = 925--60) und Elektra (848--70. 1411--13 = 1433
bis 35); Trach. 879--95 folgt der weise des euripideischen Herakles. seine
beiden letzten dramen, wie zum teil schon die Elektra und von Euripides
die jüngsten, Phoenissen Orestes Iphig. Aul. Bakchen, zeigen dann die aus
allen möglichen gemischten lieder. man würde hiernach geneigt sein,
den Herakles zu den Troades etwa herabzuziehen, und vor 424 könnte man
ihn gar nicht anzusetzen wagen.

Die entwickelung der sprache des Euripides ist noch viel zu wenig
genau untersucht, um aus ihr für die vorliegende frage ein moment zu
gewinnen. ganz bestimmt sondern sich auch sprachlich nur die dramen
des letzten jahrzehntes ab, in welchen Euripides einerseits einer menge
wörter der umgangssprache zutritt gewährt, so zu der komödie über-
leitend, andererseits altertümliche wörter und formen von den alten
dichtern aufnimmt, und wie die dithyrambiker in den chorliedern durch
seltsame kühnheiten, wortschwall und selbst blosse wiederholungen musi-

25) Die Hekabe hat eine ganz ähnliche scene (683--720), aber kein enoplisches
glied, so viel die verderbnis erkennen lässt. in den Herakleiden hat der bearbeiter
die vermutlich vergleichbare stelle getilgt. die Hiketiden enthalten wirklich keine
solchen dochmien: da hat der dichter in den wechselgesängen das iambische mass
fast ausschliesslich durchgeführt. die Elektra hat er bewusst im anschluss an die
ältere tragödie streng stilisirt: auch das zeigt den concurrenten. so ist der grosse
dochmische wechselgesang nach dem muttermorde so einfach wie die dochmien des
Aischylos und in Soph. Antigone; das kleine lied 585--95 hat jedoch ein dakty-
lisches glied ameteran tis agei 590, wenn man der überlieferung glauben schenkt.
vertreter der alten weise sind somit ausser Aischylos Soph. Antig. Oid. Tyr., Eur.
Alk. Med. Hipp.; denn das klagelied des totwunden Hippolytos hat nichts von
enoplischen zusätzen und geht wenig über die lieder der Io im Prometheus hinaus.

Der Herakles des Euripides.
der gegenüber die enoplischen dochmien noch streng scheinen können.
so überschaut man eine entwickelung, welche man natürlich mit der-
selben weiteren spielraum lassenden vorsicht beurteilen muſs, welche aber
wenigstens über die zugehörigkeit eines dramas zu der oder jener gruppe
keinen zweifel läſst. daſs die neue musik, der dithyrambus, den tragikern
vorbild gewesen sei, ist eine unabweisbare schluſsfolgerung. der Herakles
hat nun die enoplischen dochmien in sehr breiter ausdehnung angewandt:
die drei letzten gesangnummern gehören ihnen ganz an. auſserdem finden
sie sich in Andromache (825—65), Troerinnen (241—91) Ion (762—99.
1445—1509) Helene (625—97), Iphig. Taur. (827—99) Phoenissen
(103—92) Orestes (173—203. 1246—1309. 1353—65) Bakchen (1017—23.
1153—99) 25). in den beiden letzten und jüngsten stücken respondieren die
dochmien meistens; dasselbe geschieht bei Sophokles in Aias (373—76 =
387—91, 879—914 = 925—60) und Elektra (848—70. 1411—13 = 1433
bis 35); Trach. 879—95 folgt der weise des euripideischen Herakles. seine
beiden letzten dramen, wie zum teil schon die Elektra und von Euripides
die jüngsten, Phoenissen Orestes Iphig. Aul. Bakchen, zeigen dann die aus
allen möglichen gemischten lieder. man würde hiernach geneigt sein,
den Herakles zu den Troades etwa herabzuziehen, und vor 424 könnte man
ihn gar nicht anzusetzen wagen.

Die entwickelung der sprache des Euripides ist noch viel zu wenig
genau untersucht, um aus ihr für die vorliegende frage ein moment zu
gewinnen. ganz bestimmt sondern sich auch sprachlich nur die dramen
des letzten jahrzehntes ab, in welchen Euripides einerseits einer menge
wörter der umgangssprache zutritt gewährt, so zu der komödie über-
leitend, andererseits altertümliche wörter und formen von den alten
dichtern aufnimmt, und wie die dithyrambiker in den chorliedern durch
seltsame kühnheiten, wortschwall und selbst bloſse wiederholungen musi-

25) Die Hekabe hat eine ganz ähnliche scene (683—720), aber kein enoplisches
glied, so viel die verderbnis erkennen läſst. in den Herakleiden hat der bearbeiter
die vermutlich vergleichbare stelle getilgt. die Hiketiden enthalten wirklich keine
solchen dochmien: da hat der dichter in den wechselgesängen das iambische maſs
fast ausschlieſslich durchgeführt. die Elektra hat er bewuſst im anschluſs an die
ältere tragödie streng stilisirt: auch das zeigt den concurrenten. so ist der groſse
dochmische wechselgesang nach dem muttermorde so einfach wie die dochmien des
Aischylos und in Soph. Antigone; das kleine lied 585—95 hat jedoch ein dakty-
lisches glied ἁμετέραν τις ἄγει 590, wenn man der überlieferung glauben schenkt.
vertreter der alten weise sind somit auſser Aischylos Soph. Antig. Oid. Tyr., Eur.
Alk. Med. Hipp.; denn das klagelied des totwunden Hippolytos hat nichts von
enoplischen zusätzen und geht wenig über die lieder der Io im Prometheus hinaus.
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[352/0372] Der Herakles des Euripides. der gegenüber die enoplischen dochmien noch streng scheinen können. so überschaut man eine entwickelung, welche man natürlich mit der- selben weiteren spielraum lassenden vorsicht beurteilen muſs, welche aber wenigstens über die zugehörigkeit eines dramas zu der oder jener gruppe keinen zweifel läſst. daſs die neue musik, der dithyrambus, den tragikern vorbild gewesen sei, ist eine unabweisbare schluſsfolgerung. der Herakles hat nun die enoplischen dochmien in sehr breiter ausdehnung angewandt: die drei letzten gesangnummern gehören ihnen ganz an. auſserdem finden sie sich in Andromache (825—65), Troerinnen (241—91) Ion (762—99. 1445—1509) Helene (625—97), Iphig. Taur. (827—99) Phoenissen (103—92) Orestes (173—203. 1246—1309. 1353—65) Bakchen (1017—23. 1153—99) 25). in den beiden letzten und jüngsten stücken respondieren die dochmien meistens; dasselbe geschieht bei Sophokles in Aias (373—76 = 387—91, 879—914 = 925—60) und Elektra (848—70. 1411—13 = 1433 bis 35); Trach. 879—95 folgt der weise des euripideischen Herakles. seine beiden letzten dramen, wie zum teil schon die Elektra und von Euripides die jüngsten, Phoenissen Orestes Iphig. Aul. Bakchen, zeigen dann die aus allen möglichen gemischten lieder. man würde hiernach geneigt sein, den Herakles zu den Troades etwa herabzuziehen, und vor 424 könnte man ihn gar nicht anzusetzen wagen. Die entwickelung der sprache des Euripides ist noch viel zu wenig genau untersucht, um aus ihr für die vorliegende frage ein moment zu gewinnen. ganz bestimmt sondern sich auch sprachlich nur die dramen des letzten jahrzehntes ab, in welchen Euripides einerseits einer menge wörter der umgangssprache zutritt gewährt, so zu der komödie über- leitend, andererseits altertümliche wörter und formen von den alten dichtern aufnimmt, und wie die dithyrambiker in den chorliedern durch seltsame kühnheiten, wortschwall und selbst bloſse wiederholungen musi- 25) Die Hekabe hat eine ganz ähnliche scene (683—720), aber kein enoplisches glied, so viel die verderbnis erkennen läſst. in den Herakleiden hat der bearbeiter die vermutlich vergleichbare stelle getilgt. die Hiketiden enthalten wirklich keine solchen dochmien: da hat der dichter in den wechselgesängen das iambische maſs fast ausschlieſslich durchgeführt. die Elektra hat er bewuſst im anschluſs an die ältere tragödie streng stilisirt: auch das zeigt den concurrenten. so ist der groſse dochmische wechselgesang nach dem muttermorde so einfach wie die dochmien des Aischylos und in Soph. Antigone; das kleine lied 585—95 hat jedoch ein dakty- lisches glied ἁμετέραν τις ἄγει 590, wenn man der überlieferung glauben schenkt. vertreter der alten weise sind somit auſser Aischylos Soph. Antig. Oid. Tyr., Eur. Alk. Med. Hipp.; denn das klagelied des totwunden Hippolytos hat nichts von enoplischen zusätzen und geht wenig über die lieder der Io im Prometheus hinaus.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 352. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/372>, abgerufen am 23.04.2024.