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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Aufführungszeit. äussere form.
gruppe, welche das entgegengesetzte extrem vertreten, Helene, beide
Iphigeneien, Phoenissen, Orestes, Bakchen, zu welchen von verlornen,
aber genügend kenntlichen Andromeda Antiope Hypsipyle Bakchen treten:
für sie alle mit ausnahme der taurischen Iphigeneia ist die entstehung
im letzten jahrzehnt des dichters urkundlich bezeugt. dazwischen liegen
zeitlich und stilistisch Hiketiden und Erechtheus 421 17), Alexandros und
Troerinnen 415, Elektra 413, urkundlich oder durch geschichtliche an-
spielungen datirt. in diese mittelgruppe gehört der Herakles und gehören
ausserdem Hekabe und lon, doch so dass Hekabe ihrer form nach in den
meisten dingen sich den älteren dramen anschliesst, wie sie denn auch
Aristophanes vielleicht schon 423 parodirt 18), während Ion, für den nur
die untere zeitgrenze 412 gesetzt werden kann 19), formal zu den späten
dramen steht. zwischen beide gehört der Herakles.

Nur in einer so starken spielraum lassenden gruppirung wird ein
vorsichtiger stilistische kriterien verwenden mögen; wer freilich den blick
nur auf eine einzige erscheinung heftet, wird es leicht haben, bestimmter
zu schliessen. gemeiniglich legt man ausschliesslich wert auf den unter-
schied, der jedem zuerst in die augen fällt, die häufigkeit der auflösungen
im iambischen trimeter. das ist in der tat ein sehr wichtiges moment,
wenn man nur die nötige umsicht übt 20), und es weist den Herakles
etwa zwischen Hekabe und Hiketiden. nicht minder wichtig wird eine
bisher kaum beachtete erscheinung 21), die nur in chorliedern hervortreten
kann, die verkürzung des langvocalischen oder diphthongischen auslautes
vor folgendem vocale, welche eigentlich nur in daktylischen oder doch
daktylisch scheinenden füssen zulässig ist. während Sophokles sich darin

17) Die wolüberlegten ausführungen von G. Lugge (Programm von Münster 1887)
kommen zu einem ergebnis, welches zu complicirt ist, um richtig sein zu können.
in dem momente, wo es sich um den abschluss des friedens, den ersatz des Kleon
als führer des demos und um die gegenüber Argos inne zu haltende politik handelte,
sind alle äusserungen des Euripides verständlich. dass die Athener sogleich in allen
stücken getan haben sollten, wozu der dichter riet, ist nicht zu verlangen. für
Argos interessirte man sich schon 424, Ar. Ritt. 464.
18) Wolk. 718 nach Hek. 162; der vers scheint den 423 aufgeführten Wolken
anzugehören.
19) Vgl. Herm. 18, 242.
20) Mechanisches zählen beweist gar nichts. wenn z. b. eine hauptperson
Hippolytos heisst, so ist der dichter gezwungen dreisylbige füsse zu brauchen; manch-
mal will er auch malen wie Her. 935.
21) Es kann hier nur angeführt werden, was für den speciellen fall von wert
ist; die wichtigkeit der sache wird erst klar werden, wenn die summe der er-
scheinungen vorgelegt und in ihrem zusammenhange erläutert ist.

Aufführungszeit. äuſsere form.
gruppe, welche das entgegengesetzte extrem vertreten, Helene, beide
Iphigeneien, Phoenissen, Orestes, Bakchen, zu welchen von verlornen,
aber genügend kenntlichen Andromeda Antiope Hypsipyle Bakchen treten:
für sie alle mit ausnahme der taurischen Iphigeneia ist die entstehung
im letzten jahrzehnt des dichters urkundlich bezeugt. dazwischen liegen
zeitlich und stilistisch Hiketiden und Erechtheus 421 17), Alexandros und
Troerinnen 415, Elektra 413, urkundlich oder durch geschichtliche an-
spielungen datirt. in diese mittelgruppe gehört der Herakles und gehören
auſserdem Hekabe und lon, doch so daſs Hekabe ihrer form nach in den
meisten dingen sich den älteren dramen anschlieſst, wie sie denn auch
Aristophanes vielleicht schon 423 parodirt 18), während Ion, für den nur
die untere zeitgrenze 412 gesetzt werden kann 19), formal zu den späten
dramen steht. zwischen beide gehört der Herakles.

Nur in einer so starken spielraum lassenden gruppirung wird ein
vorsichtiger stilistische kriterien verwenden mögen; wer freilich den blick
nur auf eine einzige erscheinung heftet, wird es leicht haben, bestimmter
zu schlieſsen. gemeiniglich legt man ausschlieſslich wert auf den unter-
schied, der jedem zuerst in die augen fällt, die häufigkeit der auflösungen
im iambischen trimeter. das ist in der tat ein sehr wichtiges moment,
wenn man nur die nötige umsicht übt 20), und es weist den Herakles
etwa zwischen Hekabe und Hiketiden. nicht minder wichtig wird eine
bisher kaum beachtete erscheinung 21), die nur in chorliedern hervortreten
kann, die verkürzung des langvocalischen oder diphthongischen auslautes
vor folgendem vocale, welche eigentlich nur in daktylischen oder doch
daktylisch scheinenden füſsen zulässig ist. während Sophokles sich darin

17) Die wolüberlegten ausführungen von G. Lugge (Programm von Münster 1887)
kommen zu einem ergebnis, welches zu complicirt ist, um richtig sein zu können.
in dem momente, wo es sich um den abschluſs des friedens, den ersatz des Kleon
als führer des demos und um die gegenüber Argos inne zu haltende politik handelte,
sind alle äuſserungen des Euripides verständlich. daſs die Athener sogleich in allen
stücken getan haben sollten, wozu der dichter riet, ist nicht zu verlangen. für
Argos interessirte man sich schon 424, Ar. Ritt. 464.
18) Wolk. 718 nach Hek. 162; der vers scheint den 423 aufgeführten Wolken
anzugehören.
19) Vgl. Herm. 18, 242.
20) Mechanisches zählen beweist gar nichts. wenn z. b. eine hauptperson
Hippolytos heiſst, so ist der dichter gezwungen dreisylbige füſse zu brauchen; manch-
mal will er auch malen wie Her. 935.
21) Es kann hier nur angeführt werden, was für den speciellen fall von wert
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scheinungen vorgelegt und in ihrem zusammenhange erläutert ist.
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[349/0369] Aufführungszeit. äuſsere form. gruppe, welche das entgegengesetzte extrem vertreten, Helene, beide Iphigeneien, Phoenissen, Orestes, Bakchen, zu welchen von verlornen, aber genügend kenntlichen Andromeda Antiope Hypsipyle Bakchen treten: für sie alle mit ausnahme der taurischen Iphigeneia ist die entstehung im letzten jahrzehnt des dichters urkundlich bezeugt. dazwischen liegen zeitlich und stilistisch Hiketiden und Erechtheus 421 17), Alexandros und Troerinnen 415, Elektra 413, urkundlich oder durch geschichtliche an- spielungen datirt. in diese mittelgruppe gehört der Herakles und gehören auſserdem Hekabe und lon, doch so daſs Hekabe ihrer form nach in den meisten dingen sich den älteren dramen anschlieſst, wie sie denn auch Aristophanes vielleicht schon 423 parodirt 18), während Ion, für den nur die untere zeitgrenze 412 gesetzt werden kann 19), formal zu den späten dramen steht. zwischen beide gehört der Herakles. Nur in einer so starken spielraum lassenden gruppirung wird ein vorsichtiger stilistische kriterien verwenden mögen; wer freilich den blick nur auf eine einzige erscheinung heftet, wird es leicht haben, bestimmter zu schlieſsen. gemeiniglich legt man ausschlieſslich wert auf den unter- schied, der jedem zuerst in die augen fällt, die häufigkeit der auflösungen im iambischen trimeter. das ist in der tat ein sehr wichtiges moment, wenn man nur die nötige umsicht übt 20), und es weist den Herakles etwa zwischen Hekabe und Hiketiden. nicht minder wichtig wird eine bisher kaum beachtete erscheinung 21), die nur in chorliedern hervortreten kann, die verkürzung des langvocalischen oder diphthongischen auslautes vor folgendem vocale, welche eigentlich nur in daktylischen oder doch daktylisch scheinenden füſsen zulässig ist. während Sophokles sich darin 17) Die wolüberlegten ausführungen von G. Lugge (Programm von Münster 1887) kommen zu einem ergebnis, welches zu complicirt ist, um richtig sein zu können. in dem momente, wo es sich um den abschluſs des friedens, den ersatz des Kleon als führer des demos und um die gegenüber Argos inne zu haltende politik handelte, sind alle äuſserungen des Euripides verständlich. daſs die Athener sogleich in allen stücken getan haben sollten, wozu der dichter riet, ist nicht zu verlangen. für Argos interessirte man sich schon 424, Ar. Ritt. 464. 18) Wolk. 718 nach Hek. 162; der vers scheint den 423 aufgeführten Wolken anzugehören. 19) Vgl. Herm. 18, 242. 20) Mechanisches zählen beweist gar nichts. wenn z. b. eine hauptperson Hippolytos heiſst, so ist der dichter gezwungen dreisylbige füſse zu brauchen; manch- mal will er auch malen wie Her. 935. 21) Es kann hier nur angeführt werden, was für den speciellen fall von wert ist; die wichtigkeit der sache wird erst klar werden, wenn die summe der er- scheinungen vorgelegt und in ihrem zusammenhange erläutert ist.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 349. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/369>, abgerufen am 18.04.2024.