Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

Bild:
<< vorherige Seite

Aufführungszeit.
nur das fest überhaupt nennte. er redet aber nur von den liedern und
tänzen der Deliaden. diese sind natürlich zu allen zeiten vorhanden ge-
dacht, eben deshalb auch zu Herakles zeit. die beziehungen Athens zur
delischen religion 11) sind uralt und waren dem Euripides sogar durch den
cult seiner familie vertraut 12). das heilige schiff segelte nach Delos zur
zeit, als die Francoisvase entstand, zur zeit, wo Sokrates starb und Delos
den Athenern gerade entfremdet war, zur zeit des Philochoros, wo es
gleichfalls frei war: die Deliaden haben gerade im zweiten jahrhundert
v. Chr., zur blütezeit des freien Delos, ehrengeschenke von vornehmen
besuchern für ihren tanz erhalten; sie hatten offenbar diesen mehr als
Apollon zu ehren getanzt 13). man muss die frage also so fassen: Euri-
pides erwähnt die Deliaden, die es immer gegeben hatte und gab, in
zwei dramen, die wir aus anderen gründen ziemlich in dieselbe zeit
rücken, in welcher Athen die Delien stiftete: somit mag als wahrschein-
lich gelten, dass er den delischen cult deshalb herbeizog, weil Athen gerade
auf ihn besonderen wert legte; aber eine zeitbestimmung für die dramen
ergibt das nicht 14). die Delien sind mit pracht gefeiert, so lange Euri-

11) Vgl. Töpffer Herm. 23, 321.
12) Vgl. oben s. 5. ein städtisches Delion mit Töpffer anzunehmen hindert
mich die dort vorgetragene auffassung unserer berichte.
13) So erhalten sie z. b. einen goldenen kranz als belohnung für ihren tanz
von L. Scipio (Dittenberger syll. 367, 90) und von Ptolemaios Epiphanes (ebenda 139)
u. s. w. V. v. Schöffer (De Deli rebus 139) hat mit sachlich verkehrter deutung
die kourai Deliades mit den chören der knaben (paides) identificirt, welche an den
Apollonien in einem öffentlichen agon auftraten, für welchen Delier die choregie
leisteten. das sind chöre wie die attischen knabenchöre an Panathenaeen Thargelien
Dionysien u. s. w. jungfrauenchöre in agonen kennt ionische sitte nicht; das be-
deutet ja auch pais nicht. die Deliades der zeit des Semos von Delos tanzen nicht
anders als die zur zeit des Euripides und des Homer. ihnen entsprechen die von
auswärts nach Delos gesandten mädchenchöre, für welche der sage nach Eumelos
(denn wer wird so etwas ernst nehmen), in geschichtlicher zeit Pindaros und Bakchy-
lides lieder gedichtet haben: in einem solchen chore kam auch Kydippe. Schöffers
im übrigen ganz vorzügliche arbeit verliert durch solchen vereinzelten misgriff natür-
lich nichts von ihrem werte.
14) Wir würden vielleicht mehr sagen können, wenn wir die Deliades des
Kratinos kennten. denn diese enthielten die schilderung einer pompe, in welcher
gerontes thallophoroi vorkamen und der Eteobutade Lykurgos: das führt darauf, sie
nach stiftung der Delien gedichtet zu denken, wo dann für Kratinos nur das jahr
424, und zwar die Dionysien, frei bleiben. aber nach Schöffers ausführungen (40)
wird man nicht leugnen können, dass attische theorieen schon vor 425 nach Delos
giengen, und so ist das drama des Kratinos nicht sicherer aus diesem punkte zu
bestimmen als der Herakles.

Aufführungszeit.
nur das fest überhaupt nennte. er redet aber nur von den liedern und
tänzen der Deliaden. diese sind natürlich zu allen zeiten vorhanden ge-
dacht, eben deshalb auch zu Herakles zeit. die beziehungen Athens zur
delischen religion 11) sind uralt und waren dem Euripides sogar durch den
cult seiner familie vertraut 12). das heilige schiff segelte nach Delos zur
zeit, als die Françoisvase entstand, zur zeit, wo Sokrates starb und Delos
den Athenern gerade entfremdet war, zur zeit des Philochoros, wo es
gleichfalls frei war: die Deliaden haben gerade im zweiten jahrhundert
v. Chr., zur blütezeit des freien Delos, ehrengeschenke von vornehmen
besuchern für ihren tanz erhalten; sie hatten offenbar diesen mehr als
Apollon zu ehren getanzt 13). man muſs die frage also so fassen: Euri-
pides erwähnt die Deliaden, die es immer gegeben hatte und gab, in
zwei dramen, die wir aus anderen gründen ziemlich in dieselbe zeit
rücken, in welcher Athen die Delien stiftete: somit mag als wahrschein-
lich gelten, daſs er den delischen cult deshalb herbeizog, weil Athen gerade
auf ihn besonderen wert legte; aber eine zeitbestimmung für die dramen
ergibt das nicht 14). die Delien sind mit pracht gefeiert, so lange Euri-

11) Vgl. Töpffer Herm. 23, 321.
12) Vgl. oben s. 5. ein städtisches Delion mit Töpffer anzunehmen hindert
mich die dort vorgetragene auffassung unserer berichte.
13) So erhalten sie z. b. einen goldenen kranz als belohnung für ihren tanz
von L. Scipio (Dittenberger syll. 367, 90) und von Ptolemaios Epiphanes (ebenda 139)
u. s. w. V. v. Schöffer (De Deli rebus 139) hat mit sachlich verkehrter deutung
die κοῡραι Δηλιάδες mit den chören der knaben (παῖδες) identificirt, welche an den
Apollonien in einem öffentlichen agon auftraten, für welchen Delier die choregie
leisteten. das sind chöre wie die attischen knabenchöre an Panathenaeen Thargelien
Dionysien u. s. w. jungfrauenchöre in agonen kennt ionische sitte nicht; das be-
deutet ja auch παῖς nicht. die Δηλιάδες der zeit des Semos von Delos tanzen nicht
anders als die zur zeit des Euripides und des Homer. ihnen entsprechen die von
auswärts nach Delos gesandten mädchenchöre, für welche der sage nach Eumelos
(denn wer wird so etwas ernst nehmen), in geschichtlicher zeit Pindaros und Bakchy-
lides lieder gedichtet haben: in einem solchen chore kam auch Kydippe. Schöffers
im übrigen ganz vorzügliche arbeit verliert durch solchen vereinzelten misgriff natür-
lich nichts von ihrem werte.
14) Wir würden vielleicht mehr sagen können, wenn wir die Δηλιάδες des
Kratinos kennten. denn diese enthielten die schilderung einer πομπή, in welcher
γέροντες ϑαλλοφόροι vorkamen und der Eteobutade Lykurgos: das führt darauf, sie
nach stiftung der Delien gedichtet zu denken, wo dann für Kratinos nur das jahr
424, und zwar die Dionysien, frei bleiben. aber nach Schöffers ausführungen (40)
wird man nicht leugnen können, daſs attische theorieen schon vor 425 nach Delos
giengen, und so ist das drama des Kratinos nicht sicherer aus diesem punkte zu
bestimmen als der Herakles.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0367" n="347"/><fw place="top" type="header">Aufführungszeit.</fw><lb/>
nur das fest überhaupt nennte. er redet aber nur von den liedern und<lb/>
tänzen der Deliaden. diese sind natürlich zu allen zeiten vorhanden ge-<lb/>
dacht, eben deshalb auch zu Herakles zeit. die beziehungen Athens zur<lb/>
delischen religion <note place="foot" n="11)">Vgl. Töpffer Herm. 23, 321.</note> sind uralt und waren dem Euripides sogar durch den<lb/>
cult seiner familie vertraut <note place="foot" n="12)">Vgl. oben s. 5. ein städtisches Delion mit Töpffer anzunehmen hindert<lb/>
mich die dort vorgetragene auffassung unserer berichte.</note>. das heilige schiff segelte nach Delos zur<lb/>
zeit, als die Françoisvase entstand, zur zeit, wo Sokrates starb und Delos<lb/>
den Athenern gerade entfremdet war, zur zeit des Philochoros, wo es<lb/>
gleichfalls frei war: die Deliaden haben gerade im zweiten jahrhundert<lb/>
v. Chr., zur blütezeit des freien Delos, ehrengeschenke von vornehmen<lb/>
besuchern für ihren tanz erhalten; sie hatten offenbar diesen mehr als<lb/>
Apollon zu ehren getanzt <note place="foot" n="13)">So erhalten sie z. b. einen goldenen kranz als belohnung für ihren tanz<lb/>
von L. Scipio (Dittenberger syll. 367, 90) und von Ptolemaios Epiphanes (ebenda 139)<lb/>
u. s. w. V. v. Schöffer (<hi rendition="#i">De Deli rebus</hi> 139) hat mit sachlich verkehrter deutung<lb/>
die &#x03BA;&#x03BF;&#x1FE1;&#x03C1;&#x03B1;&#x03B9; &#x0394;&#x03B7;&#x03BB;&#x03B9;&#x03AC;&#x03B4;&#x03B5;&#x03C2; mit den chören der knaben (&#x03C0;&#x03B1;&#x1FD6;&#x03B4;&#x03B5;&#x03C2;) identificirt, welche an den<lb/>
Apollonien in einem öffentlichen agon auftraten, für welchen Delier die choregie<lb/>
leisteten. das sind chöre wie die attischen knabenchöre an Panathenaeen Thargelien<lb/>
Dionysien u. s. w. jungfrauenchöre in agonen kennt ionische sitte nicht; das be-<lb/>
deutet ja auch &#x03C0;&#x03B1;&#x1FD6;&#x03C2; nicht. die &#x0394;&#x03B7;&#x03BB;&#x03B9;&#x03AC;&#x03B4;&#x03B5;&#x03C2; der zeit des Semos von Delos tanzen nicht<lb/>
anders als die zur zeit des Euripides und des Homer. ihnen entsprechen die von<lb/>
auswärts nach Delos gesandten mädchenchöre, für welche der sage nach Eumelos<lb/>
(denn wer wird so etwas ernst nehmen), in geschichtlicher zeit Pindaros und Bakchy-<lb/>
lides lieder gedichtet haben: in einem solchen chore kam auch Kydippe. Schöffers<lb/>
im übrigen ganz vorzügliche arbeit verliert durch solchen vereinzelten misgriff natür-<lb/>
lich nichts von ihrem werte.</note>. man mu&#x017F;s die frage also so fassen: Euri-<lb/>
pides erwähnt die Deliaden, die es immer gegeben hatte und gab, in<lb/>
zwei dramen, die wir aus anderen gründen ziemlich in dieselbe zeit<lb/>
rücken, in welcher Athen die Delien stiftete: somit mag als wahrschein-<lb/>
lich gelten, da&#x017F;s er den delischen cult deshalb herbeizog, weil Athen gerade<lb/>
auf ihn besonderen wert legte; aber eine zeitbestimmung für die dramen<lb/>
ergibt das nicht <note place="foot" n="14)">Wir würden vielleicht mehr sagen können, wenn wir die &#x0394;&#x03B7;&#x03BB;&#x03B9;&#x03AC;&#x03B4;&#x03B5;&#x03C2; des<lb/>
Kratinos kennten. denn diese enthielten die schilderung einer &#x03C0;&#x03BF;&#x03BC;&#x03C0;&#x03AE;, in welcher<lb/>
&#x03B3;&#x03AD;&#x03C1;&#x03BF;&#x03BD;&#x03C4;&#x03B5;&#x03C2; &#x03D1;&#x03B1;&#x03BB;&#x03BB;&#x03BF;&#x03C6;&#x03CC;&#x03C1;&#x03BF;&#x03B9; vorkamen und der Eteobutade Lykurgos: das führt darauf, sie<lb/>
nach stiftung der Delien gedichtet zu denken, wo dann für Kratinos nur das jahr<lb/>
424, und zwar die Dionysien, frei bleiben. aber nach Schöffers ausführungen (40)<lb/>
wird man nicht leugnen können, da&#x017F;s attische theorieen schon vor 425 nach Delos<lb/>
giengen, und so ist das drama des Kratinos nicht sicherer aus diesem punkte zu<lb/>
bestimmen als der Herakles.</note>. die Delien sind mit pracht gefeiert, so lange Euri-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[347/0367] Aufführungszeit. nur das fest überhaupt nennte. er redet aber nur von den liedern und tänzen der Deliaden. diese sind natürlich zu allen zeiten vorhanden ge- dacht, eben deshalb auch zu Herakles zeit. die beziehungen Athens zur delischen religion 11) sind uralt und waren dem Euripides sogar durch den cult seiner familie vertraut 12). das heilige schiff segelte nach Delos zur zeit, als die Françoisvase entstand, zur zeit, wo Sokrates starb und Delos den Athenern gerade entfremdet war, zur zeit des Philochoros, wo es gleichfalls frei war: die Deliaden haben gerade im zweiten jahrhundert v. Chr., zur blütezeit des freien Delos, ehrengeschenke von vornehmen besuchern für ihren tanz erhalten; sie hatten offenbar diesen mehr als Apollon zu ehren getanzt 13). man muſs die frage also so fassen: Euri- pides erwähnt die Deliaden, die es immer gegeben hatte und gab, in zwei dramen, die wir aus anderen gründen ziemlich in dieselbe zeit rücken, in welcher Athen die Delien stiftete: somit mag als wahrschein- lich gelten, daſs er den delischen cult deshalb herbeizog, weil Athen gerade auf ihn besonderen wert legte; aber eine zeitbestimmung für die dramen ergibt das nicht 14). die Delien sind mit pracht gefeiert, so lange Euri- 11) Vgl. Töpffer Herm. 23, 321. 12) Vgl. oben s. 5. ein städtisches Delion mit Töpffer anzunehmen hindert mich die dort vorgetragene auffassung unserer berichte. 13) So erhalten sie z. b. einen goldenen kranz als belohnung für ihren tanz von L. Scipio (Dittenberger syll. 367, 90) und von Ptolemaios Epiphanes (ebenda 139) u. s. w. V. v. Schöffer (De Deli rebus 139) hat mit sachlich verkehrter deutung die κοῡραι Δηλιάδες mit den chören der knaben (παῖδες) identificirt, welche an den Apollonien in einem öffentlichen agon auftraten, für welchen Delier die choregie leisteten. das sind chöre wie die attischen knabenchöre an Panathenaeen Thargelien Dionysien u. s. w. jungfrauenchöre in agonen kennt ionische sitte nicht; das be- deutet ja auch παῖς nicht. die Δηλιάδες der zeit des Semos von Delos tanzen nicht anders als die zur zeit des Euripides und des Homer. ihnen entsprechen die von auswärts nach Delos gesandten mädchenchöre, für welche der sage nach Eumelos (denn wer wird so etwas ernst nehmen), in geschichtlicher zeit Pindaros und Bakchy- lides lieder gedichtet haben: in einem solchen chore kam auch Kydippe. Schöffers im übrigen ganz vorzügliche arbeit verliert durch solchen vereinzelten misgriff natür- lich nichts von ihrem werte. 14) Wir würden vielleicht mehr sagen können, wenn wir die Δηλιάδες des Kratinos kennten. denn diese enthielten die schilderung einer πομπή, in welcher γέροντες ϑαλλοφόροι vorkamen und der Eteobutade Lykurgos: das führt darauf, sie nach stiftung der Delien gedichtet zu denken, wo dann für Kratinos nur das jahr 424, und zwar die Dionysien, frei bleiben. aber nach Schöffers ausführungen (40) wird man nicht leugnen können, daſs attische theorieen schon vor 425 nach Delos giengen, und so ist das drama des Kratinos nicht sicherer aus diesem punkte zu bestimmen als der Herakles.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/367
Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 347. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/367>, abgerufen am 20.04.2024.