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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Der Herakles des Euripides.
aber urkundlich ist auch dieses drama nicht datirt, und wenn auch for-
male kriterien und ein par andere anklänge an sich wahrscheinlich machen,
dass es etwa im vorletzten jahrzehnt des 5. jahrhunderts verfasst ist, so
ist das doch nicht mehr als eine bestätigung dessen, was sich auch sonst
für das euripideische drama ausmachen lässt, während für das sophokleische
gerade das verhältnis zu Euripides die wichtigste zeitliche relation ergibt.

Nicht viel festeren boden gewinnen wir durch die anspielungen auf
geschichtliche ereignisse, welche man im Herakles gefunden hat. in der
annahme solcher beziehungen ist häufig jedes mass überschritten worden;
jetzt ist man ihnen gegenüber nicht selten zu zaghaft. es sollte doch
über den methodischen grundsatz kein zweifel sein, dass es zwar unerlaubt
ist, irgendwelche anspielung auf aussen liegendes anzunehmen, wo der
poetische zweck allein ausreicht, dass dagegen das verständnis ausserhalb
des dramas gesucht werden muss, wenn es in ihm nicht gefunden werden
kann. sodann aber ist eine notwendige distinction zu machen. es ist
zweierlei, ob der dichter mit bewusster absicht und um vom publicum
verstanden zu werden, auf etwas hindeutet, das mit seinem stoffe nichts
zu tun hat, wie Shakespeare im Sommernachtstraum auf die jungfräuliche
Königin, oder Euripides am schlusse seiner Elektra auf die flotte in den
sicilischen gewässern, oder aber, ob der dichter unbewusst unter dem
druck der ihn umgebenden gegenwärtigen verhältnisse dinge erwähnt
oder gedanken ausspricht, zu denen der gegenstand selbst ihn nicht hin-
leitete. dies sind eigentlich nur besonders starke beispiele des die ganze
lebendige poesie beherrschenden anachronismus; z. b. die litterarischen
beziehungen gehören dahin, die zwischen Sophokles Antigone und Herodot,
Fausts erstem monologe und Herder bestehen. es leuchtet ein, dass die
beiden kategorien für die würdigung des dichters stark verschieden sind;
für die chronologische ausbeutung aber kann man sie zusammen behandeln.

Ein beleg für die erste classe, also eine bewusste und für das ver-
ständnis des publicums berechnete abschweifung vom stoffe ist im Herakles
der streit zwischen Lykos und Amphitryon über den wert des bogen-
schützen, psogos und epainos toxotou, wie die handschrift am rande
bemerkt. der stoff führte allerdings auf diese streitfrage hin. denn die
überlieferte figur des bogenschützen Herakles stritt nicht nur mit den
ehrbegriffen der dorischen adlichen und der gesellschaft, für welche sie
den ton angaben 7): die freiheitskriege waren dem volke als der sieg des

sorgfältig und bedeutsam ausgearbeitet war. nur in dem sinne darf man von nach-
ahmung reden.
7) Vgl. oben 290, II s. 86, 92. die ehrbegriffe der archaischen zeit sprechen

Der Herakles des Euripides.
aber urkundlich ist auch dieses drama nicht datirt, und wenn auch for-
male kriterien und ein par andere anklänge an sich wahrscheinlich machen,
daſs es etwa im vorletzten jahrzehnt des 5. jahrhunderts verfaſst ist, so
ist das doch nicht mehr als eine bestätigung dessen, was sich auch sonst
für das euripideische drama ausmachen läſst, während für das sophokleische
gerade das verhältnis zu Euripides die wichtigste zeitliche relation ergibt.

Nicht viel festeren boden gewinnen wir durch die anspielungen auf
geschichtliche ereignisse, welche man im Herakles gefunden hat. in der
annahme solcher beziehungen ist häufig jedes maſs überschritten worden;
jetzt ist man ihnen gegenüber nicht selten zu zaghaft. es sollte doch
über den methodischen grundsatz kein zweifel sein, daſs es zwar unerlaubt
ist, irgendwelche anspielung auf auſsen liegendes anzunehmen, wo der
poetische zweck allein ausreicht, daſs dagegen das verständnis auſserhalb
des dramas gesucht werden muſs, wenn es in ihm nicht gefunden werden
kann. sodann aber ist eine notwendige distinction zu machen. es ist
zweierlei, ob der dichter mit bewuſster absicht und um vom publicum
verstanden zu werden, auf etwas hindeutet, das mit seinem stoffe nichts
zu tun hat, wie Shakespeare im Sommernachtstraum auf die jungfräuliche
Königin, oder Euripides am schlusse seiner Elektra auf die flotte in den
sicilischen gewässern, oder aber, ob der dichter unbewuſst unter dem
druck der ihn umgebenden gegenwärtigen verhältnisse dinge erwähnt
oder gedanken ausspricht, zu denen der gegenstand selbst ihn nicht hin-
leitete. dies sind eigentlich nur besonders starke beispiele des die ganze
lebendige poesie beherrschenden anachronismus; z. b. die litterarischen
beziehungen gehören dahin, die zwischen Sophokles Antigone und Herodot,
Fausts erstem monologe und Herder bestehen. es leuchtet ein, daſs die
beiden kategorien für die würdigung des dichters stark verschieden sind;
für die chronologische ausbeutung aber kann man sie zusammen behandeln.

Ein beleg für die erste classe, also eine bewuſste und für das ver-
ständnis des publicums berechnete abschweifung vom stoffe ist im Herakles
der streit zwischen Lykos und Amphitryon über den wert des bogen-
schützen, ψόγος und ἔπαινος τοξότου, wie die handschrift am rande
bemerkt. der stoff führte allerdings auf diese streitfrage hin. denn die
überlieferte figur des bogenschützen Herakles stritt nicht nur mit den
ehrbegriffen der dorischen adlichen und der gesellschaft, für welche sie
den ton angaben 7): die freiheitskriege waren dem volke als der sieg des

sorgfältig und bedeutsam ausgearbeitet war. nur in dem sinne darf man von nach-
ahmung reden.
7) Vgl. oben 290, II s. 86, 92. die ehrbegriffe der archaischen zeit sprechen
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[344/0364] Der Herakles des Euripides. aber urkundlich ist auch dieses drama nicht datirt, und wenn auch for- male kriterien und ein par andere anklänge an sich wahrscheinlich machen, daſs es etwa im vorletzten jahrzehnt des 5. jahrhunderts verfaſst ist, so ist das doch nicht mehr als eine bestätigung dessen, was sich auch sonst für das euripideische drama ausmachen läſst, während für das sophokleische gerade das verhältnis zu Euripides die wichtigste zeitliche relation ergibt. Nicht viel festeren boden gewinnen wir durch die anspielungen auf geschichtliche ereignisse, welche man im Herakles gefunden hat. in der annahme solcher beziehungen ist häufig jedes maſs überschritten worden; jetzt ist man ihnen gegenüber nicht selten zu zaghaft. es sollte doch über den methodischen grundsatz kein zweifel sein, daſs es zwar unerlaubt ist, irgendwelche anspielung auf auſsen liegendes anzunehmen, wo der poetische zweck allein ausreicht, daſs dagegen das verständnis auſserhalb des dramas gesucht werden muſs, wenn es in ihm nicht gefunden werden kann. sodann aber ist eine notwendige distinction zu machen. es ist zweierlei, ob der dichter mit bewuſster absicht und um vom publicum verstanden zu werden, auf etwas hindeutet, das mit seinem stoffe nichts zu tun hat, wie Shakespeare im Sommernachtstraum auf die jungfräuliche Königin, oder Euripides am schlusse seiner Elektra auf die flotte in den sicilischen gewässern, oder aber, ob der dichter unbewuſst unter dem druck der ihn umgebenden gegenwärtigen verhältnisse dinge erwähnt oder gedanken ausspricht, zu denen der gegenstand selbst ihn nicht hin- leitete. dies sind eigentlich nur besonders starke beispiele des die ganze lebendige poesie beherrschenden anachronismus; z. b. die litterarischen beziehungen gehören dahin, die zwischen Sophokles Antigone und Herodot, Fausts erstem monologe und Herder bestehen. es leuchtet ein, daſs die beiden kategorien für die würdigung des dichters stark verschieden sind; für die chronologische ausbeutung aber kann man sie zusammen behandeln. Ein beleg für die erste classe, also eine bewuſste und für das ver- ständnis des publicums berechnete abschweifung vom stoffe ist im Herakles der streit zwischen Lykos und Amphitryon über den wert des bogen- schützen, ψόγος und ἔπαινος τοξότου, wie die handschrift am rande bemerkt. der stoff führte allerdings auf diese streitfrage hin. denn die überlieferte figur des bogenschützen Herakles stritt nicht nur mit den ehrbegriffen der dorischen adlichen und der gesellschaft, für welche sie den ton angaben 7): die freiheitskriege waren dem volke als der sieg des 6) 7) Vgl. oben 290, II s. 86, 92. die ehrbegriffe der archaischen zeit sprechen 6) sorgfältig und bedeutsam ausgearbeitet war. nur in dem sinne darf man von nach- ahmung reden.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 344. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/364>, abgerufen am 16.04.2024.