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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Der Herakles der sage.
empfängt. diese notwendige ergänzung hat 1824 O. Müller in den Doriern
geliefert. sein verdienst ist es, für die geschichtlichen sagen das auge
geöffnet zu haben. es entgieng ihm auch nicht, dass der grundgedanke
der Heraklessage "ein stolzes bewusstsein der dem menschen inne-
wohnenden eigenen kraft ist, durch die er sich, nicht durch vergunst
eines milden huldreichen geschickes, sondern gerade durch mühen drang-
sale und kämpfe selbst den göttern gleich zu stellen mag". aber er hat
das nicht als etwas für die Heraklessage specifisches betrachtet; wie er
denn überhaupt bei Buttmann nicht genug gelernt hat.

Die moderne mythologie wähnt über diese halbvergessenen vorgänger
weit hinaus zu sein, und zumal Buttmann hat keine starke wirkung aus-
geübt. in wahrheit kann neben ihm und Müller kein dritter genannt
werden, wenn man fragt, wer das wesen des Herakles erschlossen hat.
was hier dargelegt ist, ist im grunde nicht mehr als der versuch, den
beiden bedeutenden männern gleichmässig gerecht zu werden. diese er-
kenntnis ist aber erst gewonnen als ergebnis der selbstkritik: denn
erfassen muss jeder das, was er wirklich versteht, aus dem objecte selbst,
und das verständnis eines religiösen gedankens wird ihm keiner wirklich
vermitteln, für den diese religion im grunde doch nur ein object der
forschung ist. das kann nur einer, der selbst den lebendigen glauben
hat und ausspricht: und so mag hier der subjective dank dem grossen
Pindaros gezollt werden. am ersten nemeischen gedichte habe ich den
Herakles verstanden. und wer meine worte liest, der möge selbst von
dem propheten sich sein herz erschliessen lassen; der moderne gelehrte
kann ihm nur den weg weisen. so hoher und tiefer dinge verständnis
will nicht erlernt sondern erlebt werden.


Der Herakles der sage.
empfängt. diese notwendige ergänzung hat 1824 O. Müller in den Doriern
geliefert. sein verdienst ist es, für die geschichtlichen sagen das auge
geöffnet zu haben. es entgieng ihm auch nicht, daſs der grundgedanke
der Heraklessage “ein stolzes bewuſstsein der dem menschen inne-
wohnenden eigenen kraft ist, durch die er sich, nicht durch vergunst
eines milden huldreichen geschickes, sondern gerade durch mühen drang-
sale und kämpfe selbst den göttern gleich zu stellen mag”. aber er hat
das nicht als etwas für die Heraklessage specifisches betrachtet; wie er
denn überhaupt bei Buttmann nicht genug gelernt hat.

Die moderne mythologie wähnt über diese halbvergessenen vorgänger
weit hinaus zu sein, und zumal Buttmann hat keine starke wirkung aus-
geübt. in wahrheit kann neben ihm und Müller kein dritter genannt
werden, wenn man fragt, wer das wesen des Herakles erschlossen hat.
was hier dargelegt ist, ist im grunde nicht mehr als der versuch, den
beiden bedeutenden männern gleichmäſsig gerecht zu werden. diese er-
kenntnis ist aber erst gewonnen als ergebnis der selbstkritik: denn
erfassen muſs jeder das, was er wirklich versteht, aus dem objecte selbst,
und das verständnis eines religiösen gedankens wird ihm keiner wirklich
vermitteln, für den diese religion im grunde doch nur ein object der
forschung ist. das kann nur einer, der selbst den lebendigen glauben
hat und ausspricht: und so mag hier der subjective dank dem groſsen
Pindaros gezollt werden. am ersten nemeischen gedichte habe ich den
Herakles verstanden. und wer meine worte liest, der möge selbst von
dem propheten sich sein herz erschlieſsen lassen; der moderne gelehrte
kann ihm nur den weg weisen. so hoher und tiefer dinge verständnis
will nicht erlernt sondern erlebt werden.


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[340/0360] Der Herakles der sage. empfängt. diese notwendige ergänzung hat 1824 O. Müller in den Doriern geliefert. sein verdienst ist es, für die geschichtlichen sagen das auge geöffnet zu haben. es entgieng ihm auch nicht, daſs der grundgedanke der Heraklessage “ein stolzes bewuſstsein der dem menschen inne- wohnenden eigenen kraft ist, durch die er sich, nicht durch vergunst eines milden huldreichen geschickes, sondern gerade durch mühen drang- sale und kämpfe selbst den göttern gleich zu stellen mag”. aber er hat das nicht als etwas für die Heraklessage specifisches betrachtet; wie er denn überhaupt bei Buttmann nicht genug gelernt hat. Die moderne mythologie wähnt über diese halbvergessenen vorgänger weit hinaus zu sein, und zumal Buttmann hat keine starke wirkung aus- geübt. in wahrheit kann neben ihm und Müller kein dritter genannt werden, wenn man fragt, wer das wesen des Herakles erschlossen hat. was hier dargelegt ist, ist im grunde nicht mehr als der versuch, den beiden bedeutenden männern gleichmäſsig gerecht zu werden. diese er- kenntnis ist aber erst gewonnen als ergebnis der selbstkritik: denn erfassen muſs jeder das, was er wirklich versteht, aus dem objecte selbst, und das verständnis eines religiösen gedankens wird ihm keiner wirklich vermitteln, für den diese religion im grunde doch nur ein object der forschung ist. das kann nur einer, der selbst den lebendigen glauben hat und ausspricht: und so mag hier der subjective dank dem groſsen Pindaros gezollt werden. am ersten nemeischen gedichte habe ich den Herakles verstanden. und wer meine worte liest, der möge selbst von dem propheten sich sein herz erschlieſsen lassen; der moderne gelehrte kann ihm nur den weg weisen. so hoher und tiefer dinge verständnis will nicht erlernt sondern erlebt werden.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 340. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/360>, abgerufen am 18.04.2024.