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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Die Heraklesreligion seit der archaischen zeit.
Herakles bekämpften, der zu ihrer zeit in der phantasie der völker lebte.
aber so jemand in diesem verzerrten bilde die hellenische religion selbst
zu treffen meint, so versündigt er sich an dem heiligen.

Ein gott oder ein halbgott war Herakles immer noch geblieben,
auch in solcher verkümmerung; aber heilig zu sein hatte er eigentlich
aufgehört, als die träger seiner religion ihren geschichtlich schaffenden
beruf erfüllt hatten und einer neueren und höheren, der attischen cultur,
erlagen. denn das Athen der grossen zeit empfand sehr deutlich, dass
ihm Herakles ein fremder, dass er ein Dorer war, und nicht nur die
sagen geschichtlichen inhalts, in denen er wirklich nichts mehr war,
sondern auch die von universaler bedeutung wurden in den hintergrund
geschoben: trugen sie doch auch längst einen entschieden dorischen
charakter. gewiss ward die prächtige sagenfülle auch jetzt noch gern
gehört; es werden wol noch mehr versuche gemacht sein als von dem
einzig bekannten Panyassis, die fehlende Heraklee zu dichten, und die
prosaische darstellung der heldensage, die jetzt das epos ablöste, hat
gerade in diesem sagenkreise besondern erfolg gehabt. so wucherte die
bildende kunst auch mit dem reichen schatz von Heraklesgeschichten,
den ihr die archaische zeit bereits geformt überliefert hatte: allein das
geschah nur durch das beharrungsvermögen und durch die lebenskraft
der alten motive. die grosse kunst des 5. jahrhunderts hat für Herakles
kaum etwas grosses getan. entscheidend aber ist, dass die tragödie ihn
verschmäht hat. das ist eine eben so merkwürdige wie augenfällige tat-
sache. es kommt ja vor, dass Herakles einmal in einer episode auftritt,
wie im Prometheus des Aischylos. es kann auch nicht ausbleiben, dass auf
seine taten hier oder da hingewiesen wird. aber um seiner selbst willen
war der heros, dem Pindaros wieder und wieder huldigt, gleichzeitig in
Athen offenbar nicht darzustellen, wenigstens nicht ernsthaft. Aischylos
hat, so viel bekannt 122), auch nicht einmal ein satyrspiel aus seinem kreise
verfasst. um so eifriger und erfolgreicher haben Ion und Achaios, Sophokles
und Euripides den dorischen helden als burleske figur verwertet, und die
Alkestis zeigt, dass selbst in ernstester handlung diese charakteristik bei-
behalten ward 123). auch die komödie hielt sich an den unerschöpflichen
stoff; ihr war schon die epicharmische posse vorhergegangen, die selbst

122) Wir kennen von so wenigen satyrdramen des Aischylos den inhalt, und
die namen sind zum teil so wenig bezeichnend, dass sich darunter sehr wol eine
Heraklesgeschichte verbergen kann.
123) Da Euripides dem Phrynichos in vielem folgt, darf man die burleske auf-
fassung des Herakles ohne schwanken schon jenem zutrauen, vgl. oben s. 92.

Die Heraklesreligion seit der archaischen zeit.
Herakles bekämpften, der zu ihrer zeit in der phantasie der völker lebte.
aber so jemand in diesem verzerrten bilde die hellenische religion selbst
zu treffen meint, so versündigt er sich an dem heiligen.

Ein gott oder ein halbgott war Herakles immer noch geblieben,
auch in solcher verkümmerung; aber heilig zu sein hatte er eigentlich
aufgehört, als die träger seiner religion ihren geschichtlich schaffenden
beruf erfüllt hatten und einer neueren und höheren, der attischen cultur,
erlagen. denn das Athen der groſsen zeit empfand sehr deutlich, daſs
ihm Herakles ein fremder, daſs er ein Dorer war, und nicht nur die
sagen geschichtlichen inhalts, in denen er wirklich nichts mehr war,
sondern auch die von universaler bedeutung wurden in den hintergrund
geschoben: trugen sie doch auch längst einen entschieden dorischen
charakter. gewiſs ward die prächtige sagenfülle auch jetzt noch gern
gehört; es werden wol noch mehr versuche gemacht sein als von dem
einzig bekannten Panyassis, die fehlende Heraklee zu dichten, und die
prosaische darstellung der heldensage, die jetzt das epos ablöste, hat
gerade in diesem sagenkreise besondern erfolg gehabt. so wucherte die
bildende kunst auch mit dem reichen schatz von Heraklesgeschichten,
den ihr die archaische zeit bereits geformt überliefert hatte: allein das
geschah nur durch das beharrungsvermögen und durch die lebenskraft
der alten motive. die groſse kunst des 5. jahrhunderts hat für Herakles
kaum etwas groſses getan. entscheidend aber ist, daſs die tragödie ihn
verschmäht hat. das ist eine eben so merkwürdige wie augenfällige tat-
sache. es kommt ja vor, daſs Herakles einmal in einer episode auftritt,
wie im Prometheus des Aischylos. es kann auch nicht ausbleiben, daſs auf
seine taten hier oder da hingewiesen wird. aber um seiner selbst willen
war der heros, dem Pindaros wieder und wieder huldigt, gleichzeitig in
Athen offenbar nicht darzustellen, wenigstens nicht ernsthaft. Aischylos
hat, so viel bekannt 122), auch nicht einmal ein satyrspiel aus seinem kreise
verfaſst. um so eifriger und erfolgreicher haben Ion und Achaios, Sophokles
und Euripides den dorischen helden als burleske figur verwertet, und die
Alkestis zeigt, daſs selbst in ernstester handlung diese charakteristik bei-
behalten ward 123). auch die komödie hielt sich an den unerschöpflichen
stoff; ihr war schon die epicharmische posse vorhergegangen, die selbst

122) Wir kennen von so wenigen satyrdramen des Aischylos den inhalt, und
die namen sind zum teil so wenig bezeichnend, daſs sich darunter sehr wol eine
Heraklesgeschichte verbergen kann.
123) Da Euripides dem Phrynichos in vielem folgt, darf man die burleske auf-
fassung des Herakles ohne schwanken schon jenem zutrauen, vgl. oben s. 92.
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[333/0353] Die Heraklesreligion seit der archaischen zeit. Herakles bekämpften, der zu ihrer zeit in der phantasie der völker lebte. aber so jemand in diesem verzerrten bilde die hellenische religion selbst zu treffen meint, so versündigt er sich an dem heiligen. Ein gott oder ein halbgott war Herakles immer noch geblieben, auch in solcher verkümmerung; aber heilig zu sein hatte er eigentlich aufgehört, als die träger seiner religion ihren geschichtlich schaffenden beruf erfüllt hatten und einer neueren und höheren, der attischen cultur, erlagen. denn das Athen der groſsen zeit empfand sehr deutlich, daſs ihm Herakles ein fremder, daſs er ein Dorer war, und nicht nur die sagen geschichtlichen inhalts, in denen er wirklich nichts mehr war, sondern auch die von universaler bedeutung wurden in den hintergrund geschoben: trugen sie doch auch längst einen entschieden dorischen charakter. gewiſs ward die prächtige sagenfülle auch jetzt noch gern gehört; es werden wol noch mehr versuche gemacht sein als von dem einzig bekannten Panyassis, die fehlende Heraklee zu dichten, und die prosaische darstellung der heldensage, die jetzt das epos ablöste, hat gerade in diesem sagenkreise besondern erfolg gehabt. so wucherte die bildende kunst auch mit dem reichen schatz von Heraklesgeschichten, den ihr die archaische zeit bereits geformt überliefert hatte: allein das geschah nur durch das beharrungsvermögen und durch die lebenskraft der alten motive. die groſse kunst des 5. jahrhunderts hat für Herakles kaum etwas groſses getan. entscheidend aber ist, daſs die tragödie ihn verschmäht hat. das ist eine eben so merkwürdige wie augenfällige tat- sache. es kommt ja vor, daſs Herakles einmal in einer episode auftritt, wie im Prometheus des Aischylos. es kann auch nicht ausbleiben, daſs auf seine taten hier oder da hingewiesen wird. aber um seiner selbst willen war der heros, dem Pindaros wieder und wieder huldigt, gleichzeitig in Athen offenbar nicht darzustellen, wenigstens nicht ernsthaft. Aischylos hat, so viel bekannt 122), auch nicht einmal ein satyrspiel aus seinem kreise verfaſst. um so eifriger und erfolgreicher haben Ion und Achaios, Sophokles und Euripides den dorischen helden als burleske figur verwertet, und die Alkestis zeigt, daſs selbst in ernstester handlung diese charakteristik bei- behalten ward 123). auch die komödie hielt sich an den unerschöpflichen stoff; ihr war schon die epicharmische posse vorhergegangen, die selbst 122) Wir kennen von so wenigen satyrdramen des Aischylos den inhalt, und die namen sind zum teil so wenig bezeichnend, daſs sich darunter sehr wol eine Heraklesgeschichte verbergen kann. 123) Da Euripides dem Phrynichos in vielem folgt, darf man die burleske auf- fassung des Herakles ohne schwanken schon jenem zutrauen, vgl. oben s. 92.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 333. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/353>, abgerufen am 25.04.2024.