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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Die Heraklesreligion seit der archaischen zeit.
alle die tiere des landes und meeres,
scheusale, reissende, recht und friedlose,
die ihm zu bändigen, alle die menschen,
wildeigennützige, frevelnden fusses
ausser den bahnen des rechtes hinwandelnde,
die ihm mordend zum rechte zu führen
vom geschick beschieden war.
ja, wenn die götter zum krieg der giganten
schreiten, dann werden des Herakles pfeile
niederstrecken die himmelstürmenden riesen;
und die blonden häupter der Erdensöhne
schleifen im staube der mutter.
er aber wird den köstlichen lohn für die mühen
finden, im seligen hause den ewigen frieden:
Hera führt ihm die Jugend als braut entgegen,
an dem tische des Zeus begeht er die hochzeit:
und in ewigkeit preist er des hehren
weltenvaters regiment.

eine rhythmische paraphrase schien nicht unpassend; bedürfen doch die
meisten einer vermittelung, um im Pindar nicht nur die poesie, sondern
auch nur die gedanken zu finden. und es hilft hier eben so wenig auf
die alten wie auf die neuen erklärer zu verweisen. sie stehn ratlos vor
der willkür des dichters, der ganz ohne 'inneren bezug' 119) von Herakles
redet. nun, vielleicht leuchtet unbefangenen gemütern ein, dass es gross-
artig ist, wie der stolze Aegide sein lied emporhebt von der kleinlichen
aufgabe, das rennpferd eines sicilischen marschalls zu besingen, zu dem
preise des heros, in dem sich das mannesideal seines standes verkörpert,
an dem sich die koinai elpides poluponon andron aufrichten. dass
er aus dem himmel herabstiege und sein fabula docet zufüge, kann nur
ein pedant von ihm verlangen.

Pindar ist der letzte prophet des Dorertums und seiner ideale. er
ist auch der letzte, der den glauben an Herakles ungebrochen bewahrt
hat. er selbst sah um sich eine neue welt, in welcher weder er noch
seine ideale mehr raum hatten: die attische cultur. sie überflügelte nicht
nur das dorische wesen, sie überwand es. und wenn sie auch aus sich
ein absolut höheres neues hinzubrachte, so war doch darin ihr vor-
gearbeitet, dass die archaische cultur erstarrt war, und als unzulänglich
selbst in den kreisen empfunden ward, in denen ihre wurzeln ruhten.
auch die Heraklessage genügte um 500 nicht mehr dem herzen, weil das
herz nicht mehr empfand wie um 800.

119) Dies gedicht und N. 10 dürfte man zunächst von den herrn erklärt wünschen,
welche Pindar auf das kreuz des terpandrischen nomos schlagen.
Die Heraklesreligion seit der archaischen zeit.
alle die tiere des landes und meeres,
scheusale, reiſsende, recht und friedlose,
die ihm zu bändigen, alle die menschen,
wildeigennützige, frevelnden fuſses
auſser den bahnen des rechtes hinwandelnde,
die ihm mordend zum rechte zu führen
vom geschick beschieden war.
ja, wenn die götter zum krieg der giganten
schreiten, dann werden des Herakles pfeile
niederstrecken die himmelstürmenden riesen;
und die blonden häupter der Erdensöhne
schleifen im staube der mutter.
er aber wird den köstlichen lohn für die mühen
finden, im seligen hause den ewigen frieden:
Hera führt ihm die Jugend als braut entgegen,
an dem tische des Zeus begeht er die hochzeit:
und in ewigkeit preist er des hehren
weltenvaters regiment.

eine rhythmische paraphrase schien nicht unpassend; bedürfen doch die
meisten einer vermittelung, um im Pindar nicht nur die poesie, sondern
auch nur die gedanken zu finden. und es hilft hier eben so wenig auf
die alten wie auf die neuen erklärer zu verweisen. sie stehn ratlos vor
der willkür des dichters, der ganz ohne ‘inneren bezug’ 119) von Herakles
redet. nun, vielleicht leuchtet unbefangenen gemütern ein, daſs es groſs-
artig ist, wie der stolze Aegide sein lied emporhebt von der kleinlichen
aufgabe, das rennpferd eines sicilischen marschalls zu besingen, zu dem
preise des heros, in dem sich das mannesideal seines standes verkörpert,
an dem sich die κοιναὶ ἐλπίδες πολυπόνων ἀνδρῶν aufrichten. daſs
er aus dem himmel herabstiege und sein fabula docet zufüge, kann nur
ein pedant von ihm verlangen.

Pindar ist der letzte prophet des Dorertums und seiner ideale. er
ist auch der letzte, der den glauben an Herakles ungebrochen bewahrt
hat. er selbst sah um sich eine neue welt, in welcher weder er noch
seine ideale mehr raum hatten: die attische cultur. sie überflügelte nicht
nur das dorische wesen, sie überwand es. und wenn sie auch aus sich
ein absolut höheres neues hinzubrachte, so war doch darin ihr vor-
gearbeitet, daſs die archaische cultur erstarrt war, und als unzulänglich
selbst in den kreisen empfunden ward, in denen ihre wurzeln ruhten.
auch die Heraklessage genügte um 500 nicht mehr dem herzen, weil das
herz nicht mehr empfand wie um 800.

119) Dies gedicht und N. 10 dürfte man zunächst von den herrn erklärt wünschen,
welche Pindar auf das kreuz des terpandrischen nomos schlagen.
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[329/0349] Die Heraklesreligion seit der archaischen zeit. alle die tiere des landes und meeres, scheusale, reiſsende, recht und friedlose, die ihm zu bändigen, alle die menschen, wildeigennützige, frevelnden fuſses auſser den bahnen des rechtes hinwandelnde, die ihm mordend zum rechte zu führen vom geschick beschieden war. ja, wenn die götter zum krieg der giganten schreiten, dann werden des Herakles pfeile niederstrecken die himmelstürmenden riesen; und die blonden häupter der Erdensöhne schleifen im staube der mutter. er aber wird den köstlichen lohn für die mühen finden, im seligen hause den ewigen frieden: Hera führt ihm die Jugend als braut entgegen, an dem tische des Zeus begeht er die hochzeit: und in ewigkeit preist er des hehren weltenvaters regiment. eine rhythmische paraphrase schien nicht unpassend; bedürfen doch die meisten einer vermittelung, um im Pindar nicht nur die poesie, sondern auch nur die gedanken zu finden. und es hilft hier eben so wenig auf die alten wie auf die neuen erklärer zu verweisen. sie stehn ratlos vor der willkür des dichters, der ganz ohne ‘inneren bezug’ 119) von Herakles redet. nun, vielleicht leuchtet unbefangenen gemütern ein, daſs es groſs- artig ist, wie der stolze Aegide sein lied emporhebt von der kleinlichen aufgabe, das rennpferd eines sicilischen marschalls zu besingen, zu dem preise des heros, in dem sich das mannesideal seines standes verkörpert, an dem sich die κοιναὶ ἐλπίδες πολυπόνων ἀνδρῶν aufrichten. daſs er aus dem himmel herabstiege und sein fabula docet zufüge, kann nur ein pedant von ihm verlangen. Pindar ist der letzte prophet des Dorertums und seiner ideale. er ist auch der letzte, der den glauben an Herakles ungebrochen bewahrt hat. er selbst sah um sich eine neue welt, in welcher weder er noch seine ideale mehr raum hatten: die attische cultur. sie überflügelte nicht nur das dorische wesen, sie überwand es. und wenn sie auch aus sich ein absolut höheres neues hinzubrachte, so war doch darin ihr vor- gearbeitet, daſs die archaische cultur erstarrt war, und als unzulänglich selbst in den kreisen empfunden ward, in denen ihre wurzeln ruhten. auch die Heraklessage genügte um 500 nicht mehr dem herzen, weil das herz nicht mehr empfand wie um 800. 119) Dies gedicht und N. 10 dürfte man zunächst von den herrn erklärt wünschen, welche Pindar auf das kreuz des terpandrischen nomos schlagen.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 329. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/349>, abgerufen am 18.04.2024.