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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Der Herakles der sage.
seines stoffes ganz fern lebte. Ioles liebe und das euböische Oichalia
sind nun wenigstens nachweislich in dem epos des Kreophylos-Homeros
vorgekommen. damit sind wir in einer region, in welche die umgestaltung
der thessalischen sagen und die einführung Lydiens ganz vortrefflich passt.
wahrlich, kaum könnte man sich etwas anderes als ein homerisches ge-
dicht denken, um zugleich den durchschlagenden erfolg der lydischen
localisation und die anknüpfung der lydischen dynastie an Herakles begreif-
lich zu machen 97).

Die sagen selbst können nunmehr erst verstanden werden, wo sie
auf ihren heimischen boden zurückgeführt sind. die einzelheiten der
kriegszüge sind freilich kaum aufzuhellen, da die politische geschichte
und selbst die gruppirung der stämme um den Oeta zu wenig bekannt
sind. aber dass der gegensatz der einwanderer zu den eingebornen zu
grunde liegt, ist im allgemeinen deutlich genug. Herakles bezwingt zum teil
die althellenischen heroen, oder aber er erbt ihre taten; dafür ist nament-
lich der berühmte kampf mit Kyknos ein beleg 98). in diesem handelt er
im dienste des Apollon, und Apollon ist vertreter der delphisch-pyläischen
Amphiktionie, welche in der tat in diesen gegenden, wo sich nie ein
mächtiger einzelstaat erhoben hat, die einzige macht war, die die sonder-
interessen einigermassen zu bändigen und landfrieden einigermassen ein-
zuführen vermochte. da lag es nahe, dass Herakles der vollstrecker des
apollinischen willens ward, und so wird es zu fassen sein, wenn wir ihn
die feinde des gottes, Lapithen und Dryoper bezwingen sehn. aber er

97) Man darf hier wieder daran denken, dass das asiatische Erythrai einen
wirklich alten Heraklescult hat (oben s. 271), und dass er den namen einer stadt
führt, die dicht neben dem thessalischen Oichalia liegt: auf demselben steine bezeugt
wie jenes. dass das königsgeschlecht der Lyder, welches durch Gyges gestürzt ward,
selbst so hellenisch dachte, um Herakles als ahn zu beanspruchen, ist nicht glaub-
lich, auch würden sie nicht eine sclavin des Iardanos, sondern Omphale als ahnfrau
angesehen haben (so erst später: die naivetät bei Herodot I 7 unter doule Iardanou
Omphale zu verstehen, verdient keine widerlegung). wol aber muss diese verbindung
zu einer zeit aufgebracht sein, als die Hellenen für dieses alte haus sympathie em-
pfanden, und die Lyder sich schon stark hellenisirt hatten. das trifft auf die zeit
des Alyattes, vielleicht auch schon auf etwas frühere zu: in diese wird dann auch
das homerische gedicht zu setzen sein. von den fabeleien des Skytobrachion bei
dem Damascener Nikolaos ist einschlägliches von belang nicht erhalten: das ist zu
verschmerzen, denn es war ein roman, und man sollte einen alten epiker Magnes,
der die taten der Lyder gegen die Amazonen besungen haben soll (fgm. 62), nicht
ernsthaft nehmen, und so zu einer lydischen epik gelangen, die womöglich auch
in die Heraklessage übergreifen könnte.
98) Vgl. zu v. 110.

Der Herakles der sage.
seines stoffes ganz fern lebte. Ioles liebe und das euböische Oichalia
sind nun wenigstens nachweislich in dem epos des Kreophylos-Homeros
vorgekommen. damit sind wir in einer region, in welche die umgestaltung
der thessalischen sagen und die einführung Lydiens ganz vortrefflich paſst.
wahrlich, kaum könnte man sich etwas anderes als ein homerisches ge-
dicht denken, um zugleich den durchschlagenden erfolg der lydischen
localisation und die anknüpfung der lydischen dynastie an Herakles begreif-
lich zu machen 97).

Die sagen selbst können nunmehr erst verstanden werden, wo sie
auf ihren heimischen boden zurückgeführt sind. die einzelheiten der
kriegszüge sind freilich kaum aufzuhellen, da die politische geschichte
und selbst die gruppirung der stämme um den Oeta zu wenig bekannt
sind. aber daſs der gegensatz der einwanderer zu den eingebornen zu
grunde liegt, ist im allgemeinen deutlich genug. Herakles bezwingt zum teil
die althellenischen heroen, oder aber er erbt ihre taten; dafür ist nament-
lich der berühmte kampf mit Kyknos ein beleg 98). in diesem handelt er
im dienste des Apollon, und Apollon ist vertreter der delphisch-pyläischen
Amphiktionie, welche in der tat in diesen gegenden, wo sich nie ein
mächtiger einzelstaat erhoben hat, die einzige macht war, die die sonder-
interessen einigermaſsen zu bändigen und landfrieden einigermaſsen ein-
zuführen vermochte. da lag es nahe, daſs Herakles der vollstrecker des
apollinischen willens ward, und so wird es zu fassen sein, wenn wir ihn
die feinde des gottes, Lapithen und Dryoper bezwingen sehn. aber er

97) Man darf hier wieder daran denken, daſs das asiatische Erythrai einen
wirklich alten Heraklescult hat (oben s. 271), und daſs er den namen einer stadt
führt, die dicht neben dem thessalischen Oichalia liegt: auf demselben steine bezeugt
wie jenes. daſs das königsgeschlecht der Lyder, welches durch Gyges gestürzt ward,
selbst so hellenisch dachte, um Herakles als ahn zu beanspruchen, ist nicht glaub-
lich, auch würden sie nicht eine sclavin des Iardanos, sondern Omphale als ahnfrau
angesehen haben (so erst später: die naivetät bei Herodot I 7 unter δούλη Ἰαρδάνου
Omphale zu verstehen, verdient keine widerlegung). wol aber muſs diese verbindung
zu einer zeit aufgebracht sein, als die Hellenen für dieses alte haus sympathie em-
pfanden, und die Lyder sich schon stark hellenisirt hatten. das trifft auf die zeit
des Alyattes, vielleicht auch schon auf etwas frühere zu: in diese wird dann auch
das homerische gedicht zu setzen sein. von den fabeleien des Skytobrachion bei
dem Damascener Nikolaos ist einschlägliches von belang nicht erhalten: das ist zu
verschmerzen, denn es war ein roman, und man sollte einen alten epiker Magnes,
der die taten der Lyder gegen die Amazonen besungen haben soll (fgm. 62), nicht
ernsthaft nehmen, und so zu einer lydischen epik gelangen, die womöglich auch
in die Heraklessage übergreifen könnte.
98) Vgl. zu v. 110.
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[318/0338] Der Herakles der sage. seines stoffes ganz fern lebte. Ioles liebe und das euböische Oichalia sind nun wenigstens nachweislich in dem epos des Kreophylos-Homeros vorgekommen. damit sind wir in einer region, in welche die umgestaltung der thessalischen sagen und die einführung Lydiens ganz vortrefflich paſst. wahrlich, kaum könnte man sich etwas anderes als ein homerisches ge- dicht denken, um zugleich den durchschlagenden erfolg der lydischen localisation und die anknüpfung der lydischen dynastie an Herakles begreif- lich zu machen 97). Die sagen selbst können nunmehr erst verstanden werden, wo sie auf ihren heimischen boden zurückgeführt sind. die einzelheiten der kriegszüge sind freilich kaum aufzuhellen, da die politische geschichte und selbst die gruppirung der stämme um den Oeta zu wenig bekannt sind. aber daſs der gegensatz der einwanderer zu den eingebornen zu grunde liegt, ist im allgemeinen deutlich genug. Herakles bezwingt zum teil die althellenischen heroen, oder aber er erbt ihre taten; dafür ist nament- lich der berühmte kampf mit Kyknos ein beleg 98). in diesem handelt er im dienste des Apollon, und Apollon ist vertreter der delphisch-pyläischen Amphiktionie, welche in der tat in diesen gegenden, wo sich nie ein mächtiger einzelstaat erhoben hat, die einzige macht war, die die sonder- interessen einigermaſsen zu bändigen und landfrieden einigermaſsen ein- zuführen vermochte. da lag es nahe, daſs Herakles der vollstrecker des apollinischen willens ward, und so wird es zu fassen sein, wenn wir ihn die feinde des gottes, Lapithen und Dryoper bezwingen sehn. aber er 97) Man darf hier wieder daran denken, daſs das asiatische Erythrai einen wirklich alten Heraklescult hat (oben s. 271), und daſs er den namen einer stadt führt, die dicht neben dem thessalischen Oichalia liegt: auf demselben steine bezeugt wie jenes. daſs das königsgeschlecht der Lyder, welches durch Gyges gestürzt ward, selbst so hellenisch dachte, um Herakles als ahn zu beanspruchen, ist nicht glaub- lich, auch würden sie nicht eine sclavin des Iardanos, sondern Omphale als ahnfrau angesehen haben (so erst später: die naivetät bei Herodot I 7 unter δούλη Ἰαρδάνου Omphale zu verstehen, verdient keine widerlegung). wol aber muſs diese verbindung zu einer zeit aufgebracht sein, als die Hellenen für dieses alte haus sympathie em- pfanden, und die Lyder sich schon stark hellenisirt hatten. das trifft auf die zeit des Alyattes, vielleicht auch schon auf etwas frühere zu: in diese wird dann auch das homerische gedicht zu setzen sein. von den fabeleien des Skytobrachion bei dem Damascener Nikolaos ist einschlägliches von belang nicht erhalten: das ist zu verschmerzen, denn es war ein roman, und man sollte einen alten epiker Magnes, der die taten der Lyder gegen die Amazonen besungen haben soll (fgm. 62), nicht ernsthaft nehmen, und so zu einer lydischen epik gelangen, die womöglich auch in die Heraklessage übergreifen könnte. 98) Vgl. zu v. 110.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 318. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/338>, abgerufen am 28.03.2024.