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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Der Herakles der sage.
reich an anziehendsten neuen geschichten, die sich um so eher die herzen
eroberten, weil sie vielfach in denselben gegenden spielten, zu denen
sie zurückkehrten, vor allem aber in der ausgebildeten bequemen bild-
samen form. Chalkis Theben Korinth Delphi hat Homer sehr bald ganz
erobert; auch Argos hat homerische dichter gestellt 81), auch Sparta viel-
leicht 82). allein recht heimisch ist das fremde im Peloponnes nicht ge-
worden, und namentlich den schritt hat man hier nicht in voller freiheit
getan, der in Korinth und nördlich vom Isthmos gelang, die bearbeitung der
nationalen stoffe in homerischer form. wie die hellenische cultur Ioniens
sich allmählich das mutterland zurückerobert hat, wie die peloponnesische
sprache sitte und religion, so weit sie sich nicht dem ionischen, später
dem attischen anbequemen mochte, verkümmert und vergessen ist, so ist
es zuerst von allen lebensäusserungen dem peloponnesischen heldenge-
sange ergangen. vergessen sind die dichter, nicht nur ihre namen, nein,
dass es sie je gab; vergessen ihre werke, ja, dass es deren je gab: aber
der geist ist nicht sterblich. die seele der dichtung überdauert nicht
nur das sterbliche gemächte, den dichter, auch ihr kleid überdauert sie,
wenn es nicht durch den göttlichen geist der Muse gefeit ist: all das mag
vernichtet werden, wie das irdische des Herakles in dem oetäischen feuer.
die Heraklee hat dennoch, wie der aner theos, das ewige leben und die
ewige jugend. und wer seinen gedanken nachdenken mag, der wird
heroische ehren auch ihm gerne weihen, dem altdorischen dichter des
dodekathlos, von dem er nichts weiss, dessen stimme vor dritthalbtausend
jahren schon verklungen war, weil ihn der hauch seines stolzen und
frommen geistes umwittert. und doch ist es nicht eigentlich der dichter,
dem wir huldigen, sondern die sage, die durch ihn gesprochen, deren
geist auf ihm geruht hat. aber es ist etwas grosses, der prophet der sage
zu sein. das volk selbst würde sein köstlichstes kleinod zerstossen und
zerstümmelt haben, wenn es nicht die sorgliche künstlerhand rechtzeitig
gefasst hätte: nun dauert es, mag auch die fassung geborsten sein. ohne
den dichter des dodekathlos würden wir schwerlich die Heraklesreligion
in ihrem wesen erfassen können.

Kreophylos.

Das empfindet man am deutlichsten, wenn man einen anderen be-
deutenden sagenkreis vergleicht, dessen örtlicher mittelpunkt Trachis ist,

81) Hagias ist als verfasser für mehrere epen genannt, aber auch von Argolika.
vgl. Homer. Unters. 180.
82) Kinaithon wird schon von Hellanikos als verfasser der mikra Ilias an-
gegeben, später für mehr homerisches, aber auch für genealogien; über das citat
einer Heraklee von ihm anm. 77.

Der Herakles der sage.
reich an anziehendsten neuen geschichten, die sich um so eher die herzen
eroberten, weil sie vielfach in denselben gegenden spielten, zu denen
sie zurückkehrten, vor allem aber in der ausgebildeten bequemen bild-
samen form. Chalkis Theben Korinth Delphi hat Homer sehr bald ganz
erobert; auch Argos hat homerische dichter gestellt 81), auch Sparta viel-
leicht 82). allein recht heimisch ist das fremde im Peloponnes nicht ge-
worden, und namentlich den schritt hat man hier nicht in voller freiheit
getan, der in Korinth und nördlich vom Isthmos gelang, die bearbeitung der
nationalen stoffe in homerischer form. wie die hellenische cultur Ioniens
sich allmählich das mutterland zurückerobert hat, wie die peloponnesische
sprache sitte und religion, so weit sie sich nicht dem ionischen, später
dem attischen anbequemen mochte, verkümmert und vergessen ist, so ist
es zuerst von allen lebensäuſserungen dem peloponnesischen heldenge-
sange ergangen. vergessen sind die dichter, nicht nur ihre namen, nein,
daſs es sie je gab; vergessen ihre werke, ja, daſs es deren je gab: aber
der geist ist nicht sterblich. die seele der dichtung überdauert nicht
nur das sterbliche gemächte, den dichter, auch ihr kleid überdauert sie,
wenn es nicht durch den göttlichen geist der Muse gefeit ist: all das mag
vernichtet werden, wie das irdische des Herakles in dem oetäischen feuer.
die Heraklee hat dennoch, wie der ἀνὴρ ϑεός, das ewige leben und die
ewige jugend. und wer seinen gedanken nachdenken mag, der wird
heroische ehren auch ihm gerne weihen, dem altdorischen dichter des
dodekathlos, von dem er nichts weiſs, dessen stimme vor dritthalbtausend
jahren schon verklungen war, weil ihn der hauch seines stolzen und
frommen geistes umwittert. und doch ist es nicht eigentlich der dichter,
dem wir huldigen, sondern die sage, die durch ihn gesprochen, deren
geist auf ihm geruht hat. aber es ist etwas groſses, der prophet der sage
zu sein. das volk selbst würde sein köstlichstes kleinod zerstoſsen und
zerstümmelt haben, wenn es nicht die sorgliche künstlerhand rechtzeitig
gefaſst hätte: nun dauert es, mag auch die fassung geborsten sein. ohne
den dichter des dodekathlos würden wir schwerlich die Heraklesreligion
in ihrem wesen erfassen können.

Kreophylos.

Das empfindet man am deutlichsten, wenn man einen anderen be-
deutenden sagenkreis vergleicht, dessen örtlicher mittelpunkt Trachis ist,

81) Hagias ist als verfasser für mehrere epen genannt, aber auch von Ἀργολικά.
vgl. Homer. Unters. 180.
82) Kinaithon wird schon von Hellanikos als verfasser der μικρὰ Ἰλιάς an-
gegeben, später für mehr homerisches, aber auch für genealogien; über das citat
einer Heraklee von ihm anm. 77.
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[312/0332] Der Herakles der sage. reich an anziehendsten neuen geschichten, die sich um so eher die herzen eroberten, weil sie vielfach in denselben gegenden spielten, zu denen sie zurückkehrten, vor allem aber in der ausgebildeten bequemen bild- samen form. Chalkis Theben Korinth Delphi hat Homer sehr bald ganz erobert; auch Argos hat homerische dichter gestellt 81), auch Sparta viel- leicht 82). allein recht heimisch ist das fremde im Peloponnes nicht ge- worden, und namentlich den schritt hat man hier nicht in voller freiheit getan, der in Korinth und nördlich vom Isthmos gelang, die bearbeitung der nationalen stoffe in homerischer form. wie die hellenische cultur Ioniens sich allmählich das mutterland zurückerobert hat, wie die peloponnesische sprache sitte und religion, so weit sie sich nicht dem ionischen, später dem attischen anbequemen mochte, verkümmert und vergessen ist, so ist es zuerst von allen lebensäuſserungen dem peloponnesischen heldenge- sange ergangen. vergessen sind die dichter, nicht nur ihre namen, nein, daſs es sie je gab; vergessen ihre werke, ja, daſs es deren je gab: aber der geist ist nicht sterblich. die seele der dichtung überdauert nicht nur das sterbliche gemächte, den dichter, auch ihr kleid überdauert sie, wenn es nicht durch den göttlichen geist der Muse gefeit ist: all das mag vernichtet werden, wie das irdische des Herakles in dem oetäischen feuer. die Heraklee hat dennoch, wie der ἀνὴρ ϑεός, das ewige leben und die ewige jugend. und wer seinen gedanken nachdenken mag, der wird heroische ehren auch ihm gerne weihen, dem altdorischen dichter des dodekathlos, von dem er nichts weiſs, dessen stimme vor dritthalbtausend jahren schon verklungen war, weil ihn der hauch seines stolzen und frommen geistes umwittert. und doch ist es nicht eigentlich der dichter, dem wir huldigen, sondern die sage, die durch ihn gesprochen, deren geist auf ihm geruht hat. aber es ist etwas groſses, der prophet der sage zu sein. das volk selbst würde sein köstlichstes kleinod zerstoſsen und zerstümmelt haben, wenn es nicht die sorgliche künstlerhand rechtzeitig gefaſst hätte: nun dauert es, mag auch die fassung geborsten sein. ohne den dichter des dodekathlos würden wir schwerlich die Heraklesreligion in ihrem wesen erfassen können. Das empfindet man am deutlichsten, wenn man einen anderen be- deutenden sagenkreis vergleicht, dessen örtlicher mittelpunkt Trachis ist, 81) Hagias ist als verfasser für mehrere epen genannt, aber auch von Ἀργολικά. vgl. Homer. Unters. 180. 82) Kinaithon wird schon von Hellanikos als verfasser der μικρὰ Ἰλιάς an- gegeben, später für mehr homerisches, aber auch für genealogien; über das citat einer Heraklee von ihm anm. 77.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 312. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/332>, abgerufen am 28.03.2024.