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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Die Herakleen.
könnte; aber er ist so gut wie ganz verschollen. für die archaische zeit
wendet man seine augen natürlich auch auf die hesiodischen gedichte,
und gewiss hat in ihnen vielerlei gestanden, was Herakles angieng, nur
gewiss nicht der dodekathlos, ja überhaupt nirgend eine volle lebens-
geschichte des helden. das stück der Eoee, das seine erzeugung schildert,
und schon die stellen der Theogonie des echten Hesiodos zeigen auf das
deutlichste, dass bevor sie so gedichtet werden konnten, eine überaus
reiche und allgemein bekannte Heraklessage in fest durchgebildeter er-
zählung bestand. aber selber liefern sie diese erzählung nicht: die hesio-
dische dichtung gehört ja auch nicht nach dem Peloponnes. ihrem
einfluss werden in der Heraklessage vielmehr die erweiterungen des dode-
kathlos, meistens sagen von geschichtlichem inhalte, und dann eine anzahl
boeotischer und nordgriechischer zusätze verdankt: und die dichter waren
sich wol bewusst, parerga zu liefern.

Hesiodos kennt die Heraklessagen als allbeliebte und allbekannte.
das ionische epos, von welchem er doch wesentlich abhängt, konnte sie
ihm nicht liefern: wo hat er sie denn her? er weist auf eine dorische
dichtung zurück, der er zwar nichts von seiner form, aber viel von
seinem inhalte schuldet. wie war diese dorische dichtung beschaffen?
niemand kann das sagen, jede spur ist verweht, ist schon zu Aristoteles
zeit verweht gewesen; Pindaros Pherekydes Euripides hätten wol noch
antwort geben können. mag es eine dorische volkspoesie gegeben haben
in unvorstellbarer form, mag es prosaische erzählung, dann aber gewiss
auch sie in gewisser fester stilisirung, gewesen sein, mögen die edel-
knaben beim male die taten der ahnen erzählt haben, wie die greise sie
ihnen eingeprägt hatten, mag ein stand von fahrenden verachteten und
doch gern gehörten spielleuten neben possenhaften tänzen auch ernste
volkslieder vorgetragen haben: das ist verschollen wie das germanische
epos der völkerwanderung. aber wie dieses wird das dorische erschlossen,
weil seine stoffe auch in veränderter form sich erhalten haben. nicht
bloss die taten des Herakles, auch die stamm- und familiensagen, ja selbst
geschichtliche überlieferungen, wie die messenischen, zwingen zu der
annahme einer solchen poesie. was sie zerstört hat, ist leicht zu sehen.
seit 700 und schon früher ist das homerische epos herüber gekommen,

zurück. sie findet sich auch bei Kallim. hymn. 2, 49. aber dieser setzt den zug als
bekannt voraus. das deutet darauf, dass Rhianos ein zeitgenosse des Aratos und
Zenodotos ist, nicht des Euphorion, wie bei Suidas steht. in der tat spricht alles
gegen diesen späten ansatz, zumal die Homerkritik des Rhianos, und die Suidasdaten
sind nirgend so unzuverlässig wie in den dichtern des 3. jahrhunderts.

Die Herakleen.
könnte; aber er ist so gut wie ganz verschollen. für die archaische zeit
wendet man seine augen natürlich auch auf die hesiodischen gedichte,
und gewiſs hat in ihnen vielerlei gestanden, was Herakles angieng, nur
gewiſs nicht der dodekathlos, ja überhaupt nirgend eine volle lebens-
geschichte des helden. das stück der Eoee, das seine erzeugung schildert,
und schon die stellen der Theogonie des echten Hesiodos zeigen auf das
deutlichste, daſs bevor sie so gedichtet werden konnten, eine überaus
reiche und allgemein bekannte Heraklessage in fest durchgebildeter er-
zählung bestand. aber selber liefern sie diese erzählung nicht: die hesio-
dische dichtung gehört ja auch nicht nach dem Peloponnes. ihrem
einfluſs werden in der Heraklessage vielmehr die erweiterungen des dode-
kathlos, meistens sagen von geschichtlichem inhalte, und dann eine anzahl
boeotischer und nordgriechischer zusätze verdankt: und die dichter waren
sich wol bewuſst, parerga zu liefern.

Hesiodos kennt die Heraklessagen als allbeliebte und allbekannte.
das ionische epos, von welchem er doch wesentlich abhängt, konnte sie
ihm nicht liefern: wo hat er sie denn her? er weist auf eine dorische
dichtung zurück, der er zwar nichts von seiner form, aber viel von
seinem inhalte schuldet. wie war diese dorische dichtung beschaffen?
niemand kann das sagen, jede spur ist verweht, ist schon zu Aristoteles
zeit verweht gewesen; Pindaros Pherekydes Euripides hätten wol noch
antwort geben können. mag es eine dorische volkspoesie gegeben haben
in unvorstellbarer form, mag es prosaische erzählung, dann aber gewiſs
auch sie in gewisser fester stilisirung, gewesen sein, mögen die edel-
knaben beim male die taten der ahnen erzählt haben, wie die greise sie
ihnen eingeprägt hatten, mag ein stand von fahrenden verachteten und
doch gern gehörten spielleuten neben possenhaften tänzen auch ernste
volkslieder vorgetragen haben: das ist verschollen wie das germanische
epos der völkerwanderung. aber wie dieses wird das dorische erschlossen,
weil seine stoffe auch in veränderter form sich erhalten haben. nicht
bloſs die taten des Herakles, auch die stamm- und familiensagen, ja selbst
geschichtliche überlieferungen, wie die messenischen, zwingen zu der
annahme einer solchen poesie. was sie zerstört hat, ist leicht zu sehen.
seit 700 und schon früher ist das homerische epos herüber gekommen,

zurück. sie findet sich auch bei Kallim. hymn. 2, 49. aber dieser setzt den zug als
bekannt voraus. das deutet darauf, daſs Rhianos ein zeitgenosse des Aratos und
Zenodotos ist, nicht des Euphorion, wie bei Suidas steht. in der tat spricht alles
gegen diesen späten ansatz, zumal die Homerkritik des Rhianos, und die Suidasdaten
sind nirgend so unzuverlässig wie in den dichtern des 3. jahrhunderts.
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[311/0331] Die Herakleen. könnte; aber er ist so gut wie ganz verschollen. für die archaische zeit wendet man seine augen natürlich auch auf die hesiodischen gedichte, und gewiſs hat in ihnen vielerlei gestanden, was Herakles angieng, nur gewiſs nicht der dodekathlos, ja überhaupt nirgend eine volle lebens- geschichte des helden. das stück der Eoee, das seine erzeugung schildert, und schon die stellen der Theogonie des echten Hesiodos zeigen auf das deutlichste, daſs bevor sie so gedichtet werden konnten, eine überaus reiche und allgemein bekannte Heraklessage in fest durchgebildeter er- zählung bestand. aber selber liefern sie diese erzählung nicht: die hesio- dische dichtung gehört ja auch nicht nach dem Peloponnes. ihrem einfluſs werden in der Heraklessage vielmehr die erweiterungen des dode- kathlos, meistens sagen von geschichtlichem inhalte, und dann eine anzahl boeotischer und nordgriechischer zusätze verdankt: und die dichter waren sich wol bewuſst, parerga zu liefern. Hesiodos kennt die Heraklessagen als allbeliebte und allbekannte. das ionische epos, von welchem er doch wesentlich abhängt, konnte sie ihm nicht liefern: wo hat er sie denn her? er weist auf eine dorische dichtung zurück, der er zwar nichts von seiner form, aber viel von seinem inhalte schuldet. wie war diese dorische dichtung beschaffen? niemand kann das sagen, jede spur ist verweht, ist schon zu Aristoteles zeit verweht gewesen; Pindaros Pherekydes Euripides hätten wol noch antwort geben können. mag es eine dorische volkspoesie gegeben haben in unvorstellbarer form, mag es prosaische erzählung, dann aber gewiſs auch sie in gewisser fester stilisirung, gewesen sein, mögen die edel- knaben beim male die taten der ahnen erzählt haben, wie die greise sie ihnen eingeprägt hatten, mag ein stand von fahrenden verachteten und doch gern gehörten spielleuten neben possenhaften tänzen auch ernste volkslieder vorgetragen haben: das ist verschollen wie das germanische epos der völkerwanderung. aber wie dieses wird das dorische erschlossen, weil seine stoffe auch in veränderter form sich erhalten haben. nicht bloſs die taten des Herakles, auch die stamm- und familiensagen, ja selbst geschichtliche überlieferungen, wie die messenischen, zwingen zu der annahme einer solchen poesie. was sie zerstört hat, ist leicht zu sehen. seit 700 und schon früher ist das homerische epos herüber gekommen, 80) 80) zurück. sie findet sich auch bei Kallim. hymn. 2, 49. aber dieser setzt den zug als bekannt voraus. das deutet darauf, daſs Rhianos ein zeitgenosse des Aratos und Zenodotos ist, nicht des Euphorion, wie bei Suidas steht. in der tat spricht alles gegen diesen späten ansatz, zumal die Homerkritik des Rhianos, und die Suidasdaten sind nirgend so unzuverlässig wie in den dichtern des 3. jahrhunderts.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 311. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/331>, abgerufen am 25.04.2024.