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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Der dodekathlos. die Herakleen.
mehr beglaubigung hatte als die allmählich für viele stücke des home-
rischen nachlasses hervorgesuchten; indessen haben sie das gedicht ge-
schätzt und für mythographische dinge, vereinzelt auch für anderes ein-
gesehen. über die zünftigen kreise ist es jedoch nicht hinausgelangt.
den poetischen wert können wir nicht schätzen. immerhin gestatten die
reste den schluss, dass es nicht älter als das 6. jahrhundert gewesen sein
kann 75). also zeit und ort der entstehung würde die von Welcker ver-
mutete herleitung des dodekathlos aus diesem epos ausschliessen, gesetzt
auch, es hätte für die verbreitung und gestaltung der sage überhaupt
nachweisbaren einfluss gehabt -- wovon doch nicht das mindeste bekannt
oder wahrscheinlich ist. aber enthalten hat es allerdings den dodekathlos 76),
wie von dem hier vertretenen standpunkte aus auch ohne zeugnis an-
genommen werden würde. das ist die einzige Heraklee der archaischen
zeit, von der wir wissen. ein par gar nicht näher zu bestimmende notizen
von anderen Herakleen helfen nicht weiter 77). die nach den spärlichen
proben äusserst anmutige umfangreiche dichtung des Halikarnassiers
Panyassis gehört in das 5. jahrhundert und hat weder auf den attischen
culturkreis noch gar auf die durch ihre nationalität mit Herakles ver-
bundenen völker gewirkt. der verfasser trägt einen karischen namen und
ist aus einer ganz ionisirten stadt; was er von stoff neu zugeführt hat,
sind karische und lykische sagen: für das echtdorische ist also von ihm
nicht viel zu erwarten. im übrigen liegt der beste beweis für das fehlen
eines massgebenden Heraklesgedichtes darin, dass sich ein ionisirter Karer
im fünften jahrhundert diesen stoff wählt, der also keine Ilias post Home-

75) Das gedicht, welches unter der statue stand, Anth. Pal. IX 598, und wol
wirklich von Theokrit ist, ist das beste geschichtliche zeugnis. die wertlosigkeit
des autornamens gesteht Eratosthenes, vgl. Homer. Unt. 347. für die zeit ist wesent-
lich 1) das abenteuer des Antaios in Libyen, also nach der colonisation von Kyrene
(schol. Pind. Pyth. IX 183), 2) die beteiligung von Telamon an dem zuge gegen
Troia (Athen. XI cap. 25), wo er bereits das aristeion erhält, also aeginetische tendenz,
3) die feste einführung der tracht des Her. mit löwenhaut und keule, vgl. Furtwängler
bei Roscher Mythol. Lex. 2143. Megakleides (Athen. XII 513) hat den Peisandros
entweder für jünger als Stesichoros gehalten oder, was ungleich wahrscheinlicher
ist, gar nicht gekannt.
76) Wenn Theokrit als inhalt angibt ossous exeponesen eip aethlous, und
Suidas esti de ta Erakleous erga, so kann man das nur leugnen, wenn man den
berichterstattern den glauben versagt oder die worte umdeutet.
77) Der scholiast zu Apollonios (l 1165 und 1357) citirt für pontische dinge
eine Heraklee, deren verfasser einmal Konon, einmal Kinaithon heisst. das bleibt
ganz unklar; der inhalt setzt die gründung von Herakleia voraus. Aristoteles (poet. 8)
kennt vielleicht mehrere Herakleen, aber nicht einmal die mehrzahl ist unzweifelhaft.

Der dodekathlos. die Herakleen.
mehr beglaubigung hatte als die allmählich für viele stücke des home-
rischen nachlasses hervorgesuchten; indessen haben sie das gedicht ge-
schätzt und für mythographische dinge, vereinzelt auch für anderes ein-
gesehen. über die zünftigen kreise ist es jedoch nicht hinausgelangt.
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kann 75). also zeit und ort der entstehung würde die von Welcker ver-
mutete herleitung des dodekathlos aus diesem epos ausschlieſsen, gesetzt
auch, es hätte für die verbreitung und gestaltung der sage überhaupt
nachweisbaren einfluſs gehabt — wovon doch nicht das mindeste bekannt
oder wahrscheinlich ist. aber enthalten hat es allerdings den dodekathlos 76),
wie von dem hier vertretenen standpunkte aus auch ohne zeugnis an-
genommen werden würde. das ist die einzige Heraklee der archaischen
zeit, von der wir wissen. ein par gar nicht näher zu bestimmende notizen
von anderen Herakleen helfen nicht weiter 77). die nach den spärlichen
proben äuſserst anmutige umfangreiche dichtung des Halikarnassiers
Panyassis gehört in das 5. jahrhundert und hat weder auf den attischen
culturkreis noch gar auf die durch ihre nationalität mit Herakles ver-
bundenen völker gewirkt. der verfasser trägt einen karischen namen und
ist aus einer ganz ionisirten stadt; was er von stoff neu zugeführt hat,
sind karische und lykische sagen: für das echtdorische ist also von ihm
nicht viel zu erwarten. im übrigen liegt der beste beweis für das fehlen
eines maſsgebenden Heraklesgedichtes darin, daſs sich ein ionisirter Karer
im fünften jahrhundert diesen stoff wählt, der also keine Ilias post Home-

75) Das gedicht, welches unter der statue stand, Anth. Pal. IX 598, und wol
wirklich von Theokrit ist, ist das beste geschichtliche zeugnis. die wertlosigkeit
des autornamens gesteht Eratosthenes, vgl. Homer. Unt. 347. für die zeit ist wesent-
lich 1) das abenteuer des Antaios in Libyen, also nach der colonisation von Kyrene
(schol. Pind. Pyth. IX 183), 2) die beteiligung von Telamon an dem zuge gegen
Troia (Athen. XI cap. 25), wo er bereits das ἀριστεῖον erhält, also aeginetische tendenz,
3) die feste einführung der tracht des Her. mit löwenhaut und keule, vgl. Furtwängler
bei Roscher Mythol. Lex. 2143. Megakleides (Athen. XII 513) hat den Peisandros
entweder für jünger als Stesichoros gehalten oder, was ungleich wahrscheinlicher
ist, gar nicht gekannt.
76) Wenn Theokrit als inhalt angibt ὅσσους ἐξεπόνησεν εἶπ̕ ἀέϑλους, und
Suidas ἔστι δὲ τὰ Ἡρακλέους ἔργα, so kann man das nur leugnen, wenn man den
berichterstattern den glauben versagt oder die worte umdeutet.
77) Der scholiast zu Apollonios (l 1165 und 1357) citirt für pontische dinge
eine Heraklee, deren verfasser einmal Κόνων, einmal Κιναίϑων heiſst. das bleibt
ganz unklar; der inhalt setzt die gründung von Herakleia voraus. Aristoteles (poet. 8)
kennt vielleicht mehrere Herakleen, aber nicht einmal die mehrzahl ist unzweifelhaft.
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[309/0329] Der dodekathlos. die Herakleen. mehr beglaubigung hatte als die allmählich für viele stücke des home- rischen nachlasses hervorgesuchten; indessen haben sie das gedicht ge- schätzt und für mythographische dinge, vereinzelt auch für anderes ein- gesehen. über die zünftigen kreise ist es jedoch nicht hinausgelangt. den poetischen wert können wir nicht schätzen. immerhin gestatten die reste den schluſs, daſs es nicht älter als das 6. jahrhundert gewesen sein kann 75). also zeit und ort der entstehung würde die von Welcker ver- mutete herleitung des dodekathlos aus diesem epos ausschlieſsen, gesetzt auch, es hätte für die verbreitung und gestaltung der sage überhaupt nachweisbaren einfluſs gehabt — wovon doch nicht das mindeste bekannt oder wahrscheinlich ist. aber enthalten hat es allerdings den dodekathlos 76), wie von dem hier vertretenen standpunkte aus auch ohne zeugnis an- genommen werden würde. das ist die einzige Heraklee der archaischen zeit, von der wir wissen. ein par gar nicht näher zu bestimmende notizen von anderen Herakleen helfen nicht weiter 77). die nach den spärlichen proben äuſserst anmutige umfangreiche dichtung des Halikarnassiers Panyassis gehört in das 5. jahrhundert und hat weder auf den attischen culturkreis noch gar auf die durch ihre nationalität mit Herakles ver- bundenen völker gewirkt. der verfasser trägt einen karischen namen und ist aus einer ganz ionisirten stadt; was er von stoff neu zugeführt hat, sind karische und lykische sagen: für das echtdorische ist also von ihm nicht viel zu erwarten. im übrigen liegt der beste beweis für das fehlen eines maſsgebenden Heraklesgedichtes darin, daſs sich ein ionisirter Karer im fünften jahrhundert diesen stoff wählt, der also keine Ilias post Home- 75) Das gedicht, welches unter der statue stand, Anth. Pal. IX 598, und wol wirklich von Theokrit ist, ist das beste geschichtliche zeugnis. die wertlosigkeit des autornamens gesteht Eratosthenes, vgl. Homer. Unt. 347. für die zeit ist wesent- lich 1) das abenteuer des Antaios in Libyen, also nach der colonisation von Kyrene (schol. Pind. Pyth. IX 183), 2) die beteiligung von Telamon an dem zuge gegen Troia (Athen. XI cap. 25), wo er bereits das ἀριστεῖον erhält, also aeginetische tendenz, 3) die feste einführung der tracht des Her. mit löwenhaut und keule, vgl. Furtwängler bei Roscher Mythol. Lex. 2143. Megakleides (Athen. XII 513) hat den Peisandros entweder für jünger als Stesichoros gehalten oder, was ungleich wahrscheinlicher ist, gar nicht gekannt. 76) Wenn Theokrit als inhalt angibt ὅσσους ἐξεπόνησεν εἶπ̕ ἀέϑλους, und Suidas ἔστι δὲ τὰ Ἡρακλέους ἔργα, so kann man das nur leugnen, wenn man den berichterstattern den glauben versagt oder die worte umdeutet. 77) Der scholiast zu Apollonios (l 1165 und 1357) citirt für pontische dinge eine Heraklee, deren verfasser einmal Κόνων, einmal Κιναίϑων heiſst. das bleibt ganz unklar; der inhalt setzt die gründung von Herakleia voraus. Aristoteles (poet. 8) kennt vielleicht mehrere Herakleen, aber nicht einmal die mehrzahl ist unzweifelhaft.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 309. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/329>, abgerufen am 29.03.2024.