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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Der Herakles der sage.
sage selbst unmöglich herstellen, so ist doch die gegend, sowol räum-
lich, wie metaphorisch im reiche der sage, nachgewiesen, wo die sage
hingehört.

Dass Herakles einem im fernen westen hausenden riesen unzählige
rinderherden fortgetrieben hat, konnte oben schon in den urbestand der
Heraklessage eingereiht werden, weil es in verschiedenen varianten vor-
liegt. in der argolischen sage war das land, Erytheia, und die furchtbare
gefolgschaft des riesen, auch sein name GaruWonas bereits gestaltet:
das kennt wenigstens schon Hesiodos (theog. 287). aber wo dieses
mythische westland gedacht war, bleibt für jetzt besser dahingestellt. noch
Hekataios legte es nach Epirus; es gibt spuren, welche sogar auf den
westrand des Peloponnes zu deuten scheinen. gerade dieses abenteuer
ist den späteren durch das gedicht des Stesichoros, welcher manche züge
der Hesperidenfahrt hinein zog, in einer ganz neuen anziehenden form
geläufig geworden.

Das bewusstsein, dass nur die 10 abenteuer das leben und die dienst-
barkeit des Herakles angehen, ist noch der späten mythographischen über-
lieferung nicht verloren. sie schwankt aber in der anordnung der äpfel
und des Kerberos. selbstverständlich musste die höllenfahrt an die letzte
stelle rücken, sobald die äpfel nicht mehr die himmelfahrt bedeuteten.
dass sich die ältere ordnung trotzdem vielfach behauptet hat, zeugt für
die zähigkeit der tradition in diesem hauptstücke 71).

Die öffentliche meinung verwirft jetzt die annahme eines alten cyclus,
wie er hier mit zuversicht auf Argos und auf das 8. jahrhundert zurück-
geführt wird 72). man hält sich zunächst daran, dass ein für die Herakles-

geradezu versetzt Eustathius zu B 503 die rosse des Diomedes nach Potniai, aber
das ist verwirrung: in seinen quellen, Strab. 409 und den Euripidesscholien, steht
es nicht. der inhalt der aischyleischen tragödie Glaikos Potnieus ist ganz unbekannt.
71) Die farnesische tafel, Diodor und auch die apollodorische bibliothek in
älterer fassung (Bethe quaest. Diod. 43), sind in der anordnung der äpfel an letzter
stelle einig. es muss das also als die vulgata der mythographie gelten, und da die
poeten meist abweichen (weshalb denn auch nicht nur Hygin, sondern auch die vor-
liegende bearbeitung des Apollodor die beiden letzten taten vertauscht hat), so
muss für sie ein autoritativer vorgänger, der die bedeutung der sage noch begriff,
angenommen werden. man denkt natürlich an Pherekydes; aber aus dessen bruch-
stücken lässt es sich nicht beweisen.
72) Kein geringerer als Zoega hat den cyclus der 12 kämpfe für ganz spät
erklärt (bassoril. II 43), kein geringerer als Welcker hat ihn auf die Heraklee des
Peisandros zurückgeführt, welche er geneigt war sehr hoch zu schätzen (kl. schr.
I 83). letzterer aufsatz ist das wertvollste, was Welcker zur Heraklessage geschrieben
hat; in der Götterlehre hat er diese gestalt ganz verkannt. Zoega hat den grund

Der Herakles der sage.
sage selbst unmöglich herstellen, so ist doch die gegend, sowol räum-
lich, wie metaphorisch im reiche der sage, nachgewiesen, wo die sage
hingehört.

Daſs Herakles einem im fernen westen hausenden riesen unzählige
rinderherden fortgetrieben hat, konnte oben schon in den urbestand der
Heraklessage eingereiht werden, weil es in verschiedenen varianten vor-
liegt. in der argolischen sage war das land, Erytheia, und die furchtbare
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das kennt wenigstens schon Hesiodos (theog. 287). aber wo dieses
mythische westland gedacht war, bleibt für jetzt besser dahingestellt. noch
Hekataios legte es nach Epirus; es gibt spuren, welche sogar auf den
westrand des Peloponnes zu deuten scheinen. gerade dieses abenteuer
ist den späteren durch das gedicht des Stesichoros, welcher manche züge
der Hesperidenfahrt hinein zog, in einer ganz neuen anziehenden form
geläufig geworden.

Das bewuſstsein, daſs nur die 10 abenteuer das leben und die dienst-
barkeit des Herakles angehen, ist noch der späten mythographischen über-
lieferung nicht verloren. sie schwankt aber in der anordnung der äpfel
und des Kerberos. selbstverständlich muſste die höllenfahrt an die letzte
stelle rücken, sobald die äpfel nicht mehr die himmelfahrt bedeuteten.
daſs sich die ältere ordnung trotzdem vielfach behauptet hat, zeugt für
die zähigkeit der tradition in diesem hauptstücke 71).

Die öffentliche meinung verwirft jetzt die annahme eines alten cyclus,
wie er hier mit zuversicht auf Argos und auf das 8. jahrhundert zurück-
geführt wird 72). man hält sich zunächst daran, daſs ein für die Herakles-

geradezu versetzt Eustathius zu B 503 die rosse des Diomedes nach Potniai, aber
das ist verwirrung: in seinen quellen, Strab. 409 und den Euripidesscholien, steht
es nicht. der inhalt der aischyleischen tragödie Γλαῖκος Ποτνιεύς ist ganz unbekannt.
71) Die farnesische tafel, Diodor und auch die apollodorische bibliothek in
älterer fassung (Bethe quaest. Diod. 43), sind in der anordnung der äpfel an letzter
stelle einig. es muſs das also als die vulgata der mythographie gelten, und da die
poeten meist abweichen (weshalb denn auch nicht nur Hygin, sondern auch die vor-
liegende bearbeitung des Apollodor die beiden letzten taten vertauscht hat), so
muſs für sie ein autoritativer vorgänger, der die bedeutung der sage noch begriff,
angenommen werden. man denkt natürlich an Pherekydes; aber aus dessen bruch-
stücken läſst es sich nicht beweisen.
72) Kein geringerer als Zoega hat den cyclus der 12 kämpfe für ganz spät
erklärt (bassoril. II 43), kein geringerer als Welcker hat ihn auf die Heraklee des
Peisandros zurückgeführt, welche er geneigt war sehr hoch zu schätzen (kl. schr.
I 83). letzterer aufsatz ist das wertvollste, was Welcker zur Heraklessage geschrieben
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[304/0324] Der Herakles der sage. sage selbst unmöglich herstellen, so ist doch die gegend, sowol räum- lich, wie metaphorisch im reiche der sage, nachgewiesen, wo die sage hingehört. Daſs Herakles einem im fernen westen hausenden riesen unzählige rinderherden fortgetrieben hat, konnte oben schon in den urbestand der Heraklessage eingereiht werden, weil es in verschiedenen varianten vor- liegt. in der argolischen sage war das land, Erytheia, und die furchtbare gefolgschaft des riesen, auch sein name ΓαρυϜόνας bereits gestaltet: das kennt wenigstens schon Hesiodos (theog. 287). aber wo dieses mythische westland gedacht war, bleibt für jetzt besser dahingestellt. noch Hekataios legte es nach Epirus; es gibt spuren, welche sogar auf den westrand des Peloponnes zu deuten scheinen. gerade dieses abenteuer ist den späteren durch das gedicht des Stesichoros, welcher manche züge der Hesperidenfahrt hinein zog, in einer ganz neuen anziehenden form geläufig geworden. Das bewuſstsein, daſs nur die 10 abenteuer das leben und die dienst- barkeit des Herakles angehen, ist noch der späten mythographischen über- lieferung nicht verloren. sie schwankt aber in der anordnung der äpfel und des Kerberos. selbstverständlich muſste die höllenfahrt an die letzte stelle rücken, sobald die äpfel nicht mehr die himmelfahrt bedeuteten. daſs sich die ältere ordnung trotzdem vielfach behauptet hat, zeugt für die zähigkeit der tradition in diesem hauptstücke 71). Die öffentliche meinung verwirft jetzt die annahme eines alten cyclus, wie er hier mit zuversicht auf Argos und auf das 8. jahrhundert zurück- geführt wird 72). man hält sich zunächst daran, daſs ein für die Herakles- 70) 71) Die farnesische tafel, Diodor und auch die apollodorische bibliothek in älterer fassung (Bethe quaest. Diod. 43), sind in der anordnung der äpfel an letzter stelle einig. es muſs das also als die vulgata der mythographie gelten, und da die poeten meist abweichen (weshalb denn auch nicht nur Hygin, sondern auch die vor- liegende bearbeitung des Apollodor die beiden letzten taten vertauscht hat), so muſs für sie ein autoritativer vorgänger, der die bedeutung der sage noch begriff, angenommen werden. man denkt natürlich an Pherekydes; aber aus dessen bruch- stücken läſst es sich nicht beweisen. 72) Kein geringerer als Zoega hat den cyclus der 12 kämpfe für ganz spät erklärt (bassoril. II 43), kein geringerer als Welcker hat ihn auf die Heraklee des Peisandros zurückgeführt, welche er geneigt war sehr hoch zu schätzen (kl. schr. I 83). letzterer aufsatz ist das wertvollste, was Welcker zur Heraklessage geschrieben hat; in der Götterlehre hat er diese gestalt ganz verkannt. Zoega hat den grund 70) geradezu versetzt Eustathius zu B 503 die rosse des Diomedes nach Potniai, aber das ist verwirrung: in seinen quellen, Strab. 409 und den Euripidesscholien, steht es nicht. der inhalt der aischyleischen tragödie Γλαῖκος Ποτνιεύς ist ganz unbekannt.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 304. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/324>, abgerufen am 19.04.2024.